Année politique Suisse 1995 : Grundlagen der Staatsordnung / Institutionen und Volksrechte / Regierung
Am 30. August teilte der im Dezember 1983 gewählte Bundesrat
Otto Stich (sp) zur allgemeinen Überraschung mit, dass er
auf Ende Oktober demissionieren werde
[4]. Im Laufe des Jahres hatten sich zwar bürgerliche Politiker mehrmals für seinen Rücktritt ausgesprochen. Aber noch Mitte August hatte das SP-Sekretariat erklärt, dass mit einem Rücktritt nicht zu rechnen sei
[5]. In Würdigungen wurde Stichs Leistung als Finanzminister gelobt; namentlich in der französischsprachigen Schweiz wurde aber auch seine EU-kritische Haltung und sein als ungenügend empfundenes Bemühen um die Kontaktpflege mit der Romandie kritisiert
[6].
Die Verfassung (Art. 96, Abs. 3) sieht vor, dass ein
Nachfolger in der nächsten Parlamentssession gewählt werden muss, das hiess in diesem Fall noch vor den Nationalratswahlen vom 22. Oktober. Bürgerliche Politiker warfen Stich deshalb vor, seine Rücktrittserklärung geschickt terminiert zu haben, um der SP Wahlkampfhilfe zu leisten. Immerhin dominierten die Würdigungen Stichs und vor allem die Präsentation von valablen SP-Kandidaten für seine Nachfolge für einen Monat die Medienberichterstattung (s. dazu unten, Teil I, 1e, Eidgenössische Wahlen)
[7]. Ordnungsanträge im Nationalrat, die Ersatzwahl auf die Dezembersession zu verschieben, wurden vom Büro als verfassungswidrig bekämpft und fanden im Plenum keine Mehrheit
[8].
Für eine Mehrheit der
SP-Leitung war klar, dass ihr zweiter Bundesrat neben Ruth Dreifuss ein Mann sein sollte. Angesichts der bestehenden relativen Übervertretung der lateinischen Schweiz in der Regierung war auch seine deutschschweizerische Herkunft unbestritten. Als aussichtsreichste Kandidaten präsentierten die Medien bereits zwei Tage nach Stichs Rücktrittsankündigung die Nationalräte
Leuenberger (ZH) und
Marti (GL) - beide verfügen als Mitglieder von Kantonsregierungen über Exekutiverfahrung - sowie die Ständeräte
Piller (FR) und
Onken (TG). Als weiteren Anwärter schlug die SP des Kantons Basel-Land den ehemaligen Ständerat und amtierenden Regierungsrat
Edi Belser vor. Als einzige Frau präsentierte die Berner SP alt Nationalrätin
Gret Haller, welche als momentane Auslandschweizerin - sie ist Diplomatin beim Europarat - aufgrund ihres Zürcher Heimatscheins wählbar wäre
[9]. Am 16. September einigte sich der SP-Vorstand auf einen Dreiervorschlag Leuenberger/Piller/Haller (in der Reihenfolge der erzielten Stimmen) zuhanden der Fraktion; eine Empfehlung, wieviele von diesen Bewerbern definitiv ins Rennen geschickt werden sollten, gab er nicht ab. Die Fraktion beschloss, mit dem
Zweiervorschlag Leuenberger/Piller vor die Vereinigte Bundesversammlung zu treten
[10]. Die Fraktionen der drei anderen Bundesratsparteien verzichteten auf eine Empfehlung zugunsten eines der beiden Kandidaten; beide wurden als annehmbar taxiert. Die Grünen zeigten sich enttäuscht über den Verzicht auf eine Frauenkandidatur und beschlossen, zumindest im ersten Wahlgang für Gret Haller zu stimmen
[11].
Für die Leitungsgremien der drei grossen bürgerlichen Parteien war der Anspruch der SP auf den freiwerdenden Sitz unbestritten. Die
FDP des Kantons Zürich beschloss aber, die
Zauberformel trotzdem anzugreifen. Neben grundsätzlichen Überlegungen mag dabei auch die Konstellation mitgespielt haben, wonach der Zürcher Freisinn bei der Wahl des noch nicht 50jährigen Leuenberger aus verfassungsrechtlichen Gründen (Kantonsklausel, Art. 96 BV) für längere Zeit aus der Landesregierung ausgeschlossen bliebe. Seine bekanntesten Exponenten, Vreni Spoerry und Eric Honegger, lehnten jedoch eine mögliche Kandidatur ab. Unterstützung fand der Zürcher Freisinn bloss bei der Freiheitspartei, welche eine Absage an die Zauberformel forderte und ankündigte, dass sie nicht für einen SP-Kandidaten stimmen werde. Die Liberale Partei sprach sich ebenfalls für eine neue parteipolitische Zusammensetzung der Regierung aus; dieser Schritt sei allerdings nicht bei der anstehenden Ersatz-, sondern erst bei der Gesamterneuerungswahl vom Dezember zu wagen
[12]. Die
FDP-Fraktion hatte noch eine Woche vor der Wahl den Zürcher Vorschlag für eine eigene Kandidatur deutlich abgelehnt. Am Vorabend der Wahl war es dann nur noch eine knappe Mehrheit (25:23), die auf eine eigene Bewerbung mit
Vreni Spoerry - welche sich nun nicht mehr von einer Kandidatur distanzierte - verzichten wollte. Dabei stand selbst für diese Mehrheit eingestandenermassen nicht der Fortbestand der Zauberformel im Vordergrund. Ausschlaggebend war vielmehr die Befürchtung, bei den Gesamterneuerungswahlen vom Dezember einen jetzt eroberten dritten Sitz wieder zu verlieren, da sich die CVP und die SVP gegen eine Veränderung der parteimässigen Zusammensetzung der Regierung ausgesprochen hatten
[13].
Am
27. September standen der
Vereinigten Bundesversammlung somit zwei offizielle Kandidaten zur Auswahl: die beiden Sozialdemokraten Leuenberger und Piller. Ein letzter Ordnungsantrag der SD/Lega-Fraktion, die Wahl erst nach den Gesamterneuerungswahlen für das Parlament vorzunehmen, scheiterte. Im 1. Wahlgang erhielt Leuenberger 81 Stimmen, an zweiter Stelle folgte die Freisinnige Spoerry mit 65; die Sozialdemokraten Piller resp. Belser und Haller erhielten 48, 17 resp. 15 Stimmen. Im 2. Wahlgang überholte Piller Spoerry, welche in einer persönlichen Erklärung nach dem 1. Wahlgang auf den Entscheid der FDP-Fraktion, keine Sprengkandidatin aufzustellen, verwiesen hatte. Nach dem 3. Wahlgang schied Spoerry mit 21 Stimmen als letzte aus; nach dem 4. Wahlgang Belser. Im 5. Wahlgang wurde schliesslich
Moritz Leuenberger bei einem absoluten Mehr von 106 Stimmen mit deren 124
gewählt; Piller kam auf 86 Stimmen
[14].
Unmittelbar nach der Wahl begann die Diskussion um eine
Neuverteilung der Departemente. FDP-Präsident Steinegger verlangte, dass das Finanzministerium von einem Vertreter einer bürgerlichen Partei übernommen werden müsse. Es war allen klar, dass er dabei primär an den Freisinnigen Villiger, Vorsteher des Militärdepartements, dachte. Die Aussicht, erstmals einen Sozialdemokraten mit der Leitung des EMD zu betrauen, löste bei bürgerlichen Politikern zwar keine Begeisterung aus, schien aber, zumindest als Übergangslösung, nicht unakzeptabel. Bundesrat Ogi seinerseits machte deutlich, dass er an einem Wechsel ins EMD kein Interesse habe. Am 1. Oktober beschloss das Regierungskollegium, eine mittlere Rochade vorzunehmen: Villiger wechselte vom EMD ins EFD, Ogi vom EVED ins EMD und Leuenberger erhielt das EVED. Kommentare würdigten dies als optimale Verteilung und lobten sowohl die Führungsqualitäten von Bundespräsident Villiger, welchem es gelungen war, zwischen den unterschiedlichen Ansprüchen zu vermitteln, als auch die kollegiale und verantwortungsvolle Haltung Ogis
[15].
Am 13. Dezember trat die Vereinigte Bundesversammlung zur
Bestätigungswahl des Bundesrats für die neue Legislaturperiode zusammen. Die Ergebnisse entsprachen der gestärkten Position der Regierungsparteien im neukonstituierten Parlament. Ernsthafte Versuche von Vertretern der Regierungsparteien, die Zauberformel zu brechen, waren nicht auszumachen. Im Gegensatz zu 1991 kam es auch nicht zu Straf- und Racheaktionen zwischen den bürgerlichen Bundesratsparteien. Das beste Resultat erzielte wie bereits vor vier Jahren Jean-Pascal Delamuraz mit 193 Stimmen; nicht auszuschliessen ist, dass der wegen einer bevorstehenden Herzoperation mit Rücktrittsforderungen konfrontierte Waadtländer erneut von einem Solidaritätsbonus profitieren konnte. Auch der zweite Freisinnige, Villiger, erreichte mit 175 Stimmen ein gutes Resultat. Deutlich besser als vor vier Jahren schnitten ebenfalls die beiden CVP-Vertreter Koller und Cotti mit 176 resp. 171 Stimmen ab. Bundesrat Ogi vermochte sich zwar zu verbessern, belegte mit 164 Stimmen aber bloss den fünften Rang. Während sich die Stimmenzahl für den Amtsjüngsten, den im September gewählten Leuenberger, mit 144 Stimmen im Rahmen der üblicherweise von Sozialdemokraten erzielten Ergebnisse hielt, entfielen auf Ruth Dreifuss bei einem absoluten Mehr von 107 nur gerade 124 Stimmen; 35 Stimmen gingen an die Genfer Liberale Brunschwig, weitere 10 an Christiane Brunner (sp, GE)
[16].
Anschliessend wählte die Vereinigte Bundesversammlung
Jean-Pascal Delamuraz mit 165 Stimmen (bei einem Mehr von 111) zum
Bundespräsidenten für 1996; Vizepräsident wurde Arnold Koller
[17].
[5] Rücktrittsforderungen:
Blick, 19.5. und 22.5.95;
SoZ, 21.5. und 28.5.95;
Sonntags-Blick, 27.8.95. SP:
BüZ, 16.8.95.5
[6] Presse vom 31.8. und 31.10.95;
BZ, 28.10.95;
BaZ, 30.10.95.6
[7] Vgl. dazu auch
TA, 31.8.95.7
[8]
Amtl. Bull. NR, 1995, S. 1849 ff. und 2327; siehe dazu auch
SN, 1.9.95. Vgl. ebenfalls die Interpellation Bonny (fdp, BE) zur Schaffung von "Spielregeln" für BR-Demissionen (
Amtl. Bull. NR, 1995, S. 2729 f.).8
[9]
Blick, 1.9.95; Presse vom 6.9.-13.9.95. Bewegung für eine Frauenkandidatur:
TW, 5.9. und 7.9.95;
LNN, 9.9.95;
Bund, 14.9.95 (Vorstand der SP-Frauen).9
[10]
SoZ und
Sonntags-Blick, 17.9.95; Presse vom 18.9.95.10
[11]
TA und
SGT, 20.9.95; Presse vom 27.9.95.11
[12] FDP-ZH:
NZZ, 5.9.95;
SGT, 7.3.95. FP:
NZZ, 15.9.95. LP:
JdG, 16.9.95;
NZZ, 19.9.95;
24 Heures, 19.9.95 (Inserat der LP). Vgl. auch
Blick, 20.9.95 und Presse vom 22.9.-27.9.95. Die Mitglieder der FDP-ZH hatten sich bereits 1993 in einer Urabstimmung für einen Abschied von der Zauberformel ausgesprochen. Vgl. auch
Lit. Weigelt (Broschüre des Trumpf Buur, mit Beiträgen verschiedener Politiker der Bundesratsparteien).12
[13] Presse vom 20.9.95;
NQ und
TA, 27.9.95;
NQ, 28.9.95;
Ww, 28.9.95;
Amtl. Bull. NR, 1995, S. 2327 f. (Fraktionserklärung). Vgl. zur Kritik an der Haltung der FDP und v.a. an Spoerry die Kommentare in der Presse vom 28.9.95 sowie
BaZ, 30.9.95.13
[14]
Amtl. Bull. NR, 1995, S. 2325 ff.; Presse vom 28.9.95. Zur Person von Leuenberger siehe auch
SoZ und
Sonntags-Blick vom 1.10.95.14
[15]
LZ, 28.9.95 (Steinegger);
BaZ, 28.9.95; Presse vom 29.9.95;
NZZ und
SGT, 30.9.95; Presse vom 2.10. und 1.11.95 (Amtsübergabe). Einzig der Vorort kritisierte, dass das für die Wirtschaft wichtige EVED einem Sozialdemokraten überlassen wurde (
24 Heures, 3.10.95).15
[16]
Amtl. Bull. NR, 1995, S. 2763 ff.; Presse vom 14.12.95. Zu den Rücktrittsforderungen und der Herzoperation siehe
Bund, 4.12. und 8.12.95; Presse vom 5.12.95;
Blick, 6.12.95;
TA, 7.12.95;
BZ, 9.12.95;
Sonntags-Blick und
SoZ, 10.12.95;
Ww, 14.12.95. Zur Kritik an Dreifuss vgl. z.B.
SoZ, 26.11.95;
Blick, 27.11.95;
NQ, 7.12.95; siehe auch unten, Teil I, 7c (Grundsatzfragen: Finanzierungsfragen). Für die letzten Wahlen vgl.
SPJ 1991, S. 36 f.16
[17]
Amtl. Bull. NR, 1995, S. 2765 f.; Presse vom 14.12.95. Siehe auch die Würdigungen Delamuraz' in
NZZ und
TA, 30.12.95.17
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