Année politique Suisse 1995 : Grundlagen der Staatsordnung / Institutionen und Volksrechte / Volksrechte
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Reform der Volksrechte
Nachdem die für die Nationalratswahlen 1995 relevanten Teile der Botschaft des Bundesrats über eine Teilrevision des Gesetzes über die politischen Rechte herausgelöst und noch 1994 verabschiedet worden waren, befasste sich das Parlament mit dem Rest der Vorlage. Dieser behandelt insbesondere Fragen im Zusammenhang mit Initiativen, Referenden und Volksabstimmungen. Dabei geht es nicht um grundlegende Neuerungen, sondern eher um technische Anpassungen [59].
Der Nationalrat lehnte diverse SP-Zusatzanträge ab, so den Vorschlag, dass die Abstimmungsbotschaft an die Bürger nicht mehr vom Bundesrat, sondern vom Parlament verfasst werden soll. Keine Chance hatte auch die Forderung, an Komitees, welche Volksinitiativen einreichen, sowie an Parteien, welche an den Nationalratswahlen teilnehmen, finanzielle Beiträge auszuschütten. Beschlossen wurde eine Verlängerung der Referendumsfrist um 10 auf 100 Tage. Sie soll den Gemeinden eine korrekte Beglaubigung der Unterschriften erlauben; gleichzeitig wurde die Möglichkeit der nachträglichen Beglaubigung aufgehoben. Neu festgelegt wurde auch, dass eine Volksinitiative maximal neun Monate nach der Schlussabstimmung im Parlament dem Volk zum Entscheid vorgelegt werden muss [60].
Der Ende Juni in die Vernehmlassung gegebene Entwurf für eine Totalrevision der Bundesverfassung enthielt mehrere Vorschläge zur Neugestaltung der Volksrechte. Mit der Begründung der angewachsenen Zahl der Stimmberechtigten sieht er eine Verdoppelung der Unterschriftenzahlen für Initiative und Referendum vor. Ins Spiel gebracht wurden aber auch neue Formen der Volksrechte. Die Gesetzesinitiative wird zwar abgelehnt, jedoch soll eine als Anregung formulierte allgemeine Volksinitiative eingeführt werden, bei der das Parlament über den genauen Text und die Rechtsform entscheidet. Der Entwurf spricht sich auch gegen das konstruktive Referendum aus. Hingegen soll das Parlament ausdrücklich die Möglichkeit haben, bei einer Volksabstimmung zwei Varianten zu präsentieren. Um bestimmte, nicht dem Referendum unterstehende, aber hochpolitische Parlamentsbeschlüsse vor das Volk bringen zu können, soll eine Verwaltungsreferendum eingeführt werden. Auf Verlangen eines Drittels der Mitglieder beider Parlamentskammern würden damit Ausgabenbeschlüsse (z.B. Rüstungskäufe) oder Bewilligungen (z.B. für Kernkraftwerke) dem fakultativen Referendum unterstellt. Vermehrt sollen zudem auch internationale Verträge dem Referendum unterstellt werden, wobei dann allerdings gegen die gesetzgeberische Umsetzung dieser Verträge das Referendum nicht mehr eingesetzt werden könnte [61].
Kritisch zu den Vorschlägen des Verfassungsentwurfs äusserte sich vor allem die SP. Ihre Exponenten lehnten eine Verdoppelung der Unterschriftenzahlen strikt ab und konterten mit einer Serie von auf Bundesebene neu einzuführenden Volksrechten. Dazu gehören altbekannte Vorschläge wie die Gesetzesinitiative, aber auch Neukreationen wie die Volksmotion (analog zur parlamentarischen Motion), die Euro-Volksinitiative (diese soll den Bundesrat via Volksabstimmung auf die Vertretung einer bestimmten Politik im Rahmen von internationalen Organisationen verpflichten) oder die Express-Initiative (die innerhalb eines Jahres dem Volk zur Abstimmung vorgelegt werden muss) [62].
Im Herbst lancierte die SP die Volksinitiative "Mehr Rechte für das Volk dank dem Referendum mit Gegenvorschlag", welche die Einführung des sog. konstruktiven Referendums verlangt. Der neue Verfassungsartikel sieht vor, dass zusätzlich zum bisherigen Referendum auch noch ein ebenfalls 50 000 Unterschriften erforderndes Referendum mit einem konkreten Gegenvorschlag zu einem Gesetz oder einem allgemeinverbindlichen Bundesbeschluss eingereicht werden kann. Voraussetzung dazu ist allerdings, dass der Gegenvorschlag bereits in einer der beiden Parlamentskammern beantragt worden ist, und dort bei mindestens 5% der Ratsmitglieder Unterstützung fand. Das Verfahren bei der Volksabstimmung wäre analog zu demjenigen bei einer Volksinitiative mit einem Gegenvorschlag (doppeltes Ja möglich, Stichfrage für den Fall, dass beide angenommen werden); mehrere sich konkurrierende Referenden würden einander zuerst in Eventualabstimmungen gegenübergestellt [63].
Bereits vor der Publikation des bundesrätlichen Verfassungsentwurfs hatte eine Arbeitsgruppe der FDP ihre Reformvorschläge bezüglich Volksrechte präsentiert. Diese decken sich zu einem guten Teil mit denjenigen des Verfassungsentwurfs. Auch die FDP-Experten möchten das Sammeln von Unterschriften erschweren: entweder durch die Bestimmung, dass diese auf Amtsstellen geleistet werden müssen, oder aber durch eine Erhöhung der geforderten Anzahl. Bei den Staatsverträgen weichen die freisinnigen Vorschläge jedoch vom Verfassungsentwurf ab und propagieren mit dem in Italien praktizierten "abrogativen" Referendum eine Neuerung: bei Gesetzesanpassungen zur Erfüllung von Verpflichtungen aus internationalen Verträgen soll das fakultative Referendum erst nachträglich, d.h. einige Zeit nach Inkrafttreten eines Gesetzes, möglich sein. Über die Gültigkeit von ausformulierten Volksinitiativen - namentlich in bezug auf Einheit der Materie - soll gemäss der freisinnigen Arbeitsgruppe nicht mehr das Parlament, sondern bereits vor der Unterschriftensammlung ein vom Parlament gewähltes unabhängiges Gremium definitiv entscheiden. Dieser letzte Vorschlag wurde im Herbst von der Staatspolitischen Kommission des Ständerats aufgenommen (s. unten) [64].
Der Nationalrat gab einer parlamentarischen Initiative Robert (gp, BE) keine Folge, welche dem Parlament die Kompetenz erteilen wollte, dem fakultativen Referendum unterstehende völkerrechtliche Verträge direkt, d.h. ohne Unterschriftensammlung, der Volksabstimmung zu unterstellen. Neben dem Einwand, dass damit das Instrumentarium der Volksrechte noch variantenreicher und damit unübersichtlicher würde, verwies die Staatspolitische Kommission auch auf die anstehende Totalrevision der Verfassung, welche den geeigneten Rahmen zur Reform der Volksrechte biete [65].
Nachdem der Nationalrat bereits 1993 zwei parlamentarische Initiativen für eine Erhöhung der Unterschriftenzahl für Volksbegehren und Referenden abgelehnt hatte, sprach er sich nun auch mit 86:32 Stimmen gegen eine entsprechende Standesinitiative des Kantons Solothurn aus. Da der Ständerat dem Begehren jedoch mit 24:11 zustimmte, musste der Nationalrat seine ablehnende Haltung in einer zweiten, noch etwas deutlicher ausgefallenen Abstimmung definitiv bestätigen. Neben materiellen Argumenten sprach gegen die Initiative auch, dass eine Verdoppelung der Unterschriftenzahl ohnehin mit dem in der Zwischenzeit veröffentlichten Entwurf für eine Totalrevision der Bundesverfassung auf die Traktandenliste gesetzt worden war [66].
Eine Reduktion der Unterschriftenzahl für Initiativen und Referenden visierte demgegenüber eine parlamentarische Initiative Blatter (cvp, OW) an. Allerdings wollte er gleichzeitig das Sammeln von Unterschriften wesentlich erschweren, indem die Formulare nur noch auf bestimmten, von den Gemeinden bezeichneten Amtsstellen rechtsgültig hätten unterzeichnet werden können. Nach Ansicht des Initianten könnten damit nicht nur gewisse Missstände bei Unterschriftensammlungen vermieden (z.B. Direct mail-Kampagnen durch bezahlte Werbebüros), sondern auch die Zahl der Volksbegehren insgesamt reduziert werden. Der Nationalrat stimmte dem Anliegen gegen den Antrag seiner Staatspolitischen Kommission vorerst zu, lehnte es dann aber nach einem Rückkommensantrag Steinemann (fp, SG) ab [67].
Da in den letzten Jahren vermehrt Volksinitiativen angenommen worden sind (fünf seit 1982), stellt sich häufiger als früher das Problem, ob das Parlament - das sich in der Regel gegen die Begehren ausgesprochen hat - beim Erlass der Ausführungsgesetzgebung die Intentionen der Initianten ausreichend umsetzt. In jüngster Vergangenheit wurde diese korrekte Ausführung etwa bei der 1. August-Initiative (keine Lohnzahlungsgarantie) oder bei der Alpeninitiative (Bau der N9 bis Brig/VS) bestritten. Nationalrat Gross (sp, ZH) möchte für diese Fälle eine Rekursmöglichkeit einführen. Gemäss seiner 1993 eingereichten parlamentarischen Initiative sollen 10 000 Bürger und Bürgerinnen vom Bundesgericht eine Überprüfung der Übereinstimmung der Gesetzgebung mit dem Verfassungsauftrag verlangen können. Die Kommissionsmehrheit sprach sich aus grundsätzlichen Überlegungen gegen eine, wenn auch nur selektive, Verfassungsgerichtsbarkeit aus und verwies zudem auf die Möglichkeit, eine unbefriedigende Ausführungsgesetzgebung mit dem Referendum zu bekämpfen. Das Plenum teilte diese Ansicht und lehnte den Vorstoss mit 65:36 Stimmen ab [68].
 
[59] Vgl. SPJ 1993, S. 40 ff. und 1994, S. 42.59
[60] Amtl. Bull. NR, 1995, S. 441 ff.60
[61] Presse vom 27.6.95. Vgl. dazu auch oben, Teil I, 1a (Totalrevision der Bundesverfassung). Siehe auch J.F. Aubert in NQ, 11.4.95.61
[62] Siehe v.a. A. Gross in TW, 13.7., 20.7., 25.7. und 30.12.95; sowie ders., "Die Demokratie muss verfeinert werden", in NZZ, 9.11.95.62
[63] BBl, 1995, III, S. 1475 ff.; TA, 25.5.95. Vgl. auch SPJ 1992, S. 41 und 1993, S. 43 sowie C. Longchamp in TA, 28.7.95.63
[64] Presse vom 31.5.95; Politische Rundschau, 74/1995, Nr. 2. Vgl. auch R. Rhinow, "Warum eine Reform der Volksrechte?", in NZZ, 4.10.95. Zur Entstehungsgeschichte des Staatsvertragsreferendums siehe G. Kreis in NZZ, 10.7.95; vgl. auch Lit. Grisel, Lit. Kreis und Lit. Seiler. Zu den Auswirkungen einer EU-Mitgliedschaft auf die schweizerischen Volksrechte siehe ebenfalls Lit. Körkenmeyer.64
[65] Amtl. Bull. NR, 1995, S. 2683 f.65
[66] Amtl. Bull. NR, 1995, S. 539 ff. und 2130; Amtl. Bull. StR, 1995, S. 602 ff.; Presse vom 15.6.95. Vgl. oben sowie SPJ 1993, S. 42 f.66
[67] Amtl. Bull. NR, 1995, S. 469 ff. und 481. Steinemann hatte erfolgreich die Korrektheit der Resultatermittlung bei der ersten Abstimmung in Frage gestellt. Der StR hatte 1992 eine ähnliche Motion Petitpierre (fdp, GE) in ein Postulat umgewandelt (SPJ 1992, S. 42).67
[68] Amtl. Bull. NR, 1995, S. 475 ff.68