Année politique Suisse 1995 : Grundlagen der Staatsordnung / Wahlen / Eidgenössische Wahlen
Gemäss Wahlkampfbeobachtern setzte sich der Trend zur Personalisierung und Entthematisierung im Wahlkampfjahr 1995 fort.
Nicht mehr in erster Linie
Inhalte, sondern Ereignisse, die von einzelnen Personen gezielt geschaffen wurden,
zählten. Mehr denn je fand der Wahlkampf denn auch in den Medien statt, die flexibel auf Ereignisse und ihre Akteure reagieren konnten, während Wahlveranstaltungen und Wahlplakate auf wenig Interesse stiessen. In Anspielung auf die vom Konzept her nicht unumstrittene Fernsehsendung "Arena", die gemäss ihren Kritikern die politische Debatte emotionalisiert, personalisiert und polarisiert, wurde dem Wahlkampf verschiedentlich eine "Arenisierung" vorgeworfen
[13].
Die Solothurner SP provozierte mit ihrem Wahlslogan "
kussecht und vogelfrei" zu Beginn des Wahlkampfs eine breite öffentliche Debatte über den Wahlkampfstil und politische Inhalte. Einer der wichtigsten Schweizer Autoren, Peter Bichsel, warf der Partei "postmoderne Beliebigkeit" vor und warnte, dass eine von den liberalen Grundwerten befreite Politik den Weg für totalitäre Entwicklungen ebnen könnte. Aus Protest gab er seinen Austritt aus der SP bekannt
[14].
Zentrales Ereignis des Wahlkampfs, das sämtliche Wahlkampfkonzepte über den Haufen warf, war aber der am 30. August überraschend bekanntgegebene
Rücktritt von SP-Bundesrat Otto Stich. Damit wurde der Wahlkampf mit einer Personalfrage überlagert, welche Sachfragen weitgehend verdrängte. Auf einen Schlag rückte die SP in den Mittelpunkt des Interesses, und sie nutzte danach während Wochen konsequent die Gelegenheit, sich als diejenige Partei darzustellen, die über eine grosse Anzahl von bundesratsfähigen Köpfen verfügt. Bis zur Wahl von Moritz Leuenberger (ZH) Ende September konzentrierte sich die Aufmerksamkeit der Medien denn auch auf die Bundesratswahlen. Der SP wurde vorgeworfen, einen "Stich-Effekt" inszeniert zu haben
[15].
In den Hintergrund gedrängt wurde dabei insbesondere die SVP, deren von der
Zürcher SVP und ihrem Exponenten Christoph Blocher dominierte konservative Parteiflügel zuvor einmal mehr mit polarisierenden Inseraten die Öffentlichkeit gespalten hatte. So zeigten die "
Stiefel-Inserate" einen die Europäische Union symbolisierenden Stiefel, der auf einen Schweizer Stimmzettel tritt. Den Linken und anderen Europa-Befürwortern warf die Zürcher SVP "Heimatmüdigkeit" vor und meinte damit nicht zuletzt die FDP und die CVP. Andere Inserate karikierten die Europäische Union als Geldschluckerin und beschuldigten EU-befürwortende Parteien, den Schweizer Franken abschaffen zu wollen. Die NZZ boykottierte das "Stiefel-Inserat", da es die EU als Diktatur hinstelle und Assoziationen an Karikaturen aus der Zeit des Nationalsozialismus erwecke. Die Zürcher FDP kündigte aus Protest das traditionelle Wahlbündnis mit der kantonalen SVP. Diese ging daraufhin entgegen dem Wunsch der nationalen SVP-Leitung eine Listenverbindung mit der Freiheits-Partei ein. Auch die Berner SVP distanzierte sich vom Stiefelinserat. Schlagzeilen erhoffte sich die Zürcher SVP auch von ihrer
Kundgebung "Ja zur Schweiz - Nein zum EWR/EU-Beitritt" Ende September in Zürich, die über 10 000 Menschen anzog. Eine von der SP organisierte Gegendemonstration "für eine offene und tolerante Schweiz", an der Bundesrat Stich teilnahm, sowie Gewaltausschreitungen rechter und linker Extremisten fanden bei der Öffentlichkeit dann aber mindestens ebensoviel Aufmerksamkeit und bescherten Christoph Blocher harsche Kritik
[16].
Die Parteien liessen sich ihre Wahlkampagne insgesamt über 15 Mio Fr. kosten (1991: rund 13 Mio Fr.). Während SP, FDP und CVP über ungefähr die selben
finanziellen Mittel - nach eigenen Angaben rund 2,5 Mio Fr. - auf nationaler und kantonaler Ebene verfügten, gab die SVP ihre Mittel mit 2,2 Mio, der LdU mit 2 Mio Fr. an. Die restlichen Parteien hatten nach eigenen Angaben weniger als eine Million zur Verfügung. Die Gesamtkosten des Wahlkampfs wurden von PR-Experten aber auf das doppelte bis sechsfache der Parteiausgaben geschätzt, zumal manche Kandidierende selbst mehrere zehntausend Franken in den Wahlkampf investierten. Insbesondere in Basel, wo der freisinnige Ciba-Werkleiter Johannes R. Randegger eine äusserst aufwendige Eigenwerbung betrieb, gab die Ungleichheit der finanziellen Mittel der Kandidierenden zu Kritik Anlass. Die linken Abgeordneten legten im Grossen Rat Protest ein. In Bern gab der kostspielige Wahlkampf von Gewerbedirektor Pierre Triponez (fdp) zu reden
[17].
[13]
TA, 24.8. und 14.10.95;
LZ, 7.10.95;
Bund, 19.10.95;
Link, Magazin des Publikumsrates DRS, Nr. 12, 1995, S. 2 ff. Siehe auch
Lit. Rickenbacher. Gemäss einer Befragung von Wählenden nahmen im Wahlkampf die elektronischen Medien den wichtigsten Platz ein, gefolgt von der Presse. Die politische Werbung (Inserate und Werbesendungen) war von untergeordneter Bedeutung (
Lit. Farago).13
[14]
TA, 5.7. und 13.7.95;
WoZ, 7.7.95.14
[15]
BZ, 11.10.95;
SoZ, 24.9.95. Zu den Bundesratswahlen siehe oben, Teil I, 1c (Regierung).15
[16] Stiefeltritt:
NZZ, 12.6.95;
TA, 15.6. und 29.6.95. SVP Bern:
Bund und
BZ, 28.6.95. SVP Schweiz:
TA, 29.6.95. FDP Zürich:
TA, 29.6.95;
Ww, 6.7.95. Die Zürcher FDP wählte auch für den Ständeratswahlkampf den Alleingang und unterstützte den SVP-Kandidaten Bortoluzzi nicht (
AT, 16.6.95). Vgl. auch "Der europäische Stiefeltritt", in
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1.7.95. Anti-EU-Kundgebung: Presse vom 24.9.95. Siehe auch oben, Teil I, 1b (Politische Manifestationen). Die SVP Schweiz wie auch etwa die Berner Sektion distanzierten sich von der Veranstaltung.16
[17]
Lit. SDA/SRG. Zum Wahlkampf Randegger:
SGT, 22.9.95;
Blick, 27.9.95.17
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