Année politique Suisse 1995 : Grundlagen der Staatsordnung / Wahlen / Eidgenössische Wahlen
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Resultate für den Nationalrat (nach Parteien)
Für die detaillierten Resultate siehe die Tabellen im Anhang (anhang_1995.pdf).
Handelte es sich bei den Nationalratswahlen 1991 um eigentliche Protestwahlen, bei denen populistische und rechtsnationalistische Parteien und die Grünen als Sieger hervorgingen, so waren die Nationalratswahlen 1995 durch den Erfolg der Regierungsparteien geprägt, als Folge der Stärkung der Flügelparteien SP und SVP. Die SP konnte 13 Mandate [25] dazugewinnen und erreichte damit einen seit Einführung der Proporzwahl 1919 nie dagewesenen Erdrutschsieg. Seit 1971, als die extreme Rechte zehn Sitze gewann, war es nie mehr zu einer derartigen Verschiebung gekommen. Die SVP konnte vier Mandate zulegen, die FDP eines, während die CVP wider aller pessimistischen Prognosen nur gerade ein Mandat [26] verlor. Die Medien stuften den Ausgang der Wahlen als widersprüchlich ein: Befürchtungen dominierten, dass die Polarisierung innerhalb des Regierungslagers zu einer Verhärtung der politischen Auseinandersetzung und einer Erschwerung des Regierens führen würde. Ausserdem wurde auf einen vertieften Stadt-Land-Graben aufmerksam gemacht, da die SP besonders in den Städten und Agglomerationen, die SVP in den ländlichen Regionen zugelegt hat. Dieser Graben deckt sich in etwa mit demjenigen der Europabefürworter, welche die SP vertritt und der Europagegner, für die sich die SVP stark macht. Entsprechend wurden die Wahlen auch als Wahlen im Zeichen Europas gewertet. Sieger seien heute jene, die gestern den Mut hatten, offen zur Europafrage Stellung zu nehmen, lautete der Tenor in den Medien. Dabei schwangen Befürchtungen obenaus, dass mit den Wahlsiegern SP und SVP eine Deblockierung der Europafrage erschwert werde. Von FDP und CVP wurde die vermehrte Übernahme einer Vermittlerrolle verlangt [27].
Die Nationalratswahlen 1995 haben in der im internationalen Vergleich stabilen Schweizer Parteienlandschaft einige historisch bedeutsame Akzente gesetzt: Mit einem Zuwachs von 3,3% Wähleranteil auf 21,8% wurde die SP erstmals seit 1979 wieder wählerstärkste Partei. Dies geschah auf Kosten der Staatsgründerin FDP, die auf 20,2% Wähleranteil (-0,8%) sank, durch Proporzglück aber trotzdem ein Mandat zulegte. Von teilweise ausgesprochenem Glück profitierte aber auch die SP, denn ihre 13 Sitzgewinne liegen weit über dem, was aufgrund der höheren Wählerstärke erwartet werden konnte. Sie profitierte insbesondere vom homogenen Auftreten der Linken (vgl. oben, Listenverbindungen). Die FDP und die SP verfügen denn mit je sechs auch über die meisten Restmandate. Trotz ihrem massiven Zuwachs um 13 auf 54 Nationalratsmandate, die sie zur stärksten Partei im Nationalrat macht, bleiben die Sozialdemokraten knapp unter dem Spitzenresultat von 1943, als sie 56 Sitze erobert hatten. Ihre neuen Sitze holten sie sich in Zürich, Bern und Basel-Stadt (je zwei) sowie in Zug, Solothurn, St. Gallen, Aargau, Tessin, Genf und Jura; im Kanton Schwyz verloren sie einen Sitz.
Die FDP erzielte je einen Mandatsgewinn in Luzern, Nidwalden, Neuenburg und Genf, verlor aber in Zürich, Baselland und Jura je einen Sitz. Mit neu 16,8% (-1,2%) sank neben der FDP auch die CVP, die sich im Wahlkampf als "Kraft im Zentrum" zu präsentieren versuchte, auf ihren Tiefstwert seit Einführung des Proporzsystems 1919 ab. Sie muss künftig um ihren zweiten Bundesratssitz bangen. In Luzern, Nidwalden, Basel-Stadt, St. Gallen und Genf verlor sie Sitze, war aber in Freiburg, Baselland und Waadt erfolgreich. Die 1994 gegründete Katholische Volkspartei (KVP) war landesweit zwar wenig erfolgreich, ihre Stimmgewinne gingen aber überwiegend zu Lasten der CVP.
Die SVP, die in den letzten Jahren erfolgreich "Protestthemen" der rechten Aussenseiterparteien aufgenommen hatte, konnte sich um 3 Prozentpunkte auf 14,9% verbessern - ein Ergebnis, das sie seit den dreissiger Jahren nicht mehr erreicht hatte - und näherte sich bis auf knapp 2% der CVP an. Zu beachten ist, dass sich die SVP mit fünf neu gegründeten Kantonalparteien (AR, LU, SG, SO und ZG) an den Wahlen beteiligte und damit das gesamtschweizerische Ergebnis der SVP um volle 2% verbesserte. Die SVP brach erfolgreich in traditionelle Innerschweizer CVP-Stammlande ein und gewann Mandate in Luzern, Schwyz, Appenzell-Ausserrhoden und St. Gallen. Weiter gewann sie ein Mandat in Zürich, verlor aber eines in Freiburg. Damit legte der von Christoph Blocher dominierte konservative Parteiflügel der SVP zu, während der liberale Flügel stagnierte. In den drei Kantonen Glarus, Basel-Stadt und Genf ist die SVP nicht mehr angetreten.
Mit einem Wähleranteil von 73,7% (1991: 69,4%) und siebzehn Mandatsgewinnen kommen die Regierungsparteien neu auf 162 Nationalratsmandate, was einer Bestätigung der Zauberformel, aber immer noch dem drittschlechtesten Ergebnis der Regierungsparteien seit Einführung der Zauberformel 1959 entspricht. Vor vier Jahren hatten die Bundesratsparteien mit 147 Mandaten das schlechteste Resultat seit 1959 erzielt [29].
Im rot-grünen Lager büsste die Grüne Partei als grösste Verliererin der Nationalratswahlen sechs Mandate ein (-1,1%; neu 5%) und bleibt mit acht Sitzen nur noch im Nationalrat stärkste Nichtregierungspartei. In der Vereinigten Bundesversammlung wurde sie von den Liberalen überholt. Den stärksten Einbruch erlitt die Grüne Partei im Kanton Bern mit drei Sitzverlusten, je einen Sitz verlor sie in Solothurn, Thurgau und Genf. Die grünen Sitze gingen zumeist an die SP, der von den Wählern in arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Fragen die grössere Kompetenz zugemessen wurde. Weiter dürfte auch die unklare Europahaltung der Grünen Ursache der Wählerverluste sein sowie die Tatsache, dass die GPS in acht Kantonen Konkurrenz durch ein Bündnis erhielt, in dem sich verschiedene kantonale feministische und grün-alternative Gruppierungen zusammengeschlossen hatten (FGA). Diese stehen in der Nachfolge des grün-alternativen Wahlbündnisses von 1991 DACH ("Die andere Schweiz") und holten landesweit 1,5% (1991: 1,3%) der Stimmen. Für diese feministischen und grün-alternativen Gruppierungen ziehen weiterhin eine FraP!-Vertreterin (ZH) sowie neu eine Vertreterin des Grünen Bündnis (BE) in den Nationalrat ein. Im Kanton Genf konnte die PdA/POP im Rahmen der "Linksallianz" ein Mandat hinzugewinnen und hält neu insgesamt drei Sitze (1,2%; 1991: 0,8%). Im Kanton Waadt konnte sie ihren Wähleranteil von 4,3% auf 8,9% erhöhen. Damit ist die PdA/POP neben der EDU die einzige Nichtregierungspartei, die zulegen konnte [30].
Während das rot-grüne Lager insgesamt mit acht zusätzlichen Mandaten gestärkt wurde, schrumpfte das Zentrum weiter: Der LdU verlor in Basel-Stadt und St. Gallen je einen Sitz und sank mit einer Parteistärke von neu 1,8% (2,8%) auf den Tiefstwert seit seiner Gründung im Jahr 1936. Die EVP verfügt nach einem Sitzverlust noch über zwei Mandate und zog mit einem Wähleranteil von ebenfalls 1,8% (1,9%) mit Fraktionspartner LdU gleich. Den rechten Oppositionsparteien, die bei den letzten Wahlen vom Klima der Verunsicherung profitieren konnten, grub die SVP das Wasser ab: Die Freiheits-Partei, die ihre Abordnung 1991 auf 8 Mandate vervierfachen konnte, verlor je einen Sitz in Zürich und Bern, gewann aber einen im Thurgau. Sie rutschte von 5,1% auf 4% ab. Die Schweizer Demokraten verloren wie die Freiheits-Partei in Zürich und Bern je ein Mandat (-0,3%; neu 3,1%) und sind mit drei Sitzen nicht mehr in Fraktionsstärke vertreten. Die Tessiner Protestbewegung Lega verlor einen ihrer zwei Sitze (-0,5%), während im Kanton Bern Werner Scherrer den einzigen EDU-Sitz halten konnte. Als einzige der vier Parteien verzeichnete die EDU einen leichten Wählergewinn (+0,3%). Gegenüber 1991 verloren die rechten Oppositionsparteien insgesamt 1,6 Prozentpunkte. Die Liberalen verloren in Genf, Waadt und Neuenburg je einen Sitz (-0,3%; neu 2,7%). In Bern und Zürich, wo sie zum ersten Mal antraten, erzielten sie nur bescheidene Ergebnisse [31].
Auf Fraktionsebene ergaben sich neue Zusammenschlüsse: Die SP nahm neu die drei Vertreter der PdA/Linksallianz und wie 1991 die einzige FraP!-Vertreterin auf. Damit wurde sie mit 58 Mitgliedern stärkste Fraktion im Nationalrat. Die Grüne Fraktion nahm den bisher der CVP-Fraktion angehörende Hugo Fasel (csp, FR) sowie Franziska Teuscher (BE) vom Grünen Bündnis auf und kommt so auf zehn Mitglieder. Mit dem LdU und der EVP, die zusammen weiterhin eine Fraktion bilden (5 Vertreter), ging die Grüne Partei eine Fraktionsverbindung ein. Der einzig verbliebene Vertreter der Lega, die in der letzten Legislatur eine Fraktion mit den Schweizer Demokraten gebildet hatte, schloss sich mit der Freiheits-Partei zusammen, deren Fraktion somit wieder acht Vertreter zählt. Keine Fraktionsstärke mehr erreichten die Schweizer Demokraten, deren drei Nationalräte keinen Anschluss bei der Freiheits-Partei fanden. Ein Einzelkämpfer bleibt der EDU-Vertreter Werner Scherrer [32].
Die Zahl der nicht Wiedergewählten lag mit 19 Nationalräten (1991: 14) hoch. Darunter befanden sich prominente Wahlopfer wie Hugo Wick (cvp, BS) und Arthur Züger (sp, ZG). Von der Lega dei Ticinesi wurde der erst im Sommer nachgerückte und in Strafverfahren verwickelte Giuliano Bignasca nicht wiedergewählt. Aufgrund der sechs Sitzverluste ihrer Partei verloren fünf bisherige Grüne, darunter Rosmarie Bär (BE) und Marguerite Misteli (SO), ihr Mandat. Barbara Eberhard-Halter (SG) konnte ihr erst im Sommer von Franz Jäger übernommenes LdU-Mandat nicht halten. Mit sieben (1991: 5) Nationalrätinnen lag der Anteil der abgewählten Frauen einmal mehr höher als derjenige der Männer, was aber auch damit zusammenhängt, dass die Grünen als Partei mit dem höchsten Frauenanteil die grossen Verlierer der Wahlen waren; vier der fünf verlorenen grünen Mandate gehörten Frauen.
Auch viele kandidierende prominente Persönlichkeiten schafften den Sprung in den Nationalrat nicht. Der Präventivmediziner Felix Gutzwiller (ZH), der Direktor des Schweizerischen Gewerbeverbandes Pierre Triponez (BE) und der Präsident der Comptoir Suisse, Antoine Hoefliger (VD),hatten erfolglos für die FDP kandidiert, der Chef des Paraplegikerzentrums Nottwil, Guido A. Zäch (AG), für die CVP und Tour de Suisse-Direktor Hugo Steinegger (BE) sowie Fussballschiedsrichter Kurt Röthlisberger (AG) für die SVP. Der Fernsehprominente Anton Schaller (ZH), der sich für den LdU hatte aufstellen lassen, schaffte die Wahl ebenso wenig wie die Generalsekretäre von CVP, FDP und GP sowie die Generalsekretärin der SVP [33].
 
[25] Inkl. dem Sitz des Partito socialista unitario (TI), der 1991 noch nicht der SP zugezählt wurde.25
[26] Ausgehend von einer Zuordnung, die den Sitz der Alliance Jurassienne (BE) 1991 nicht zur CVP zählte.26
[27] Nationalratswahlen vom 22.10.95: BBl, 1995, IV, S. 1389 ff. Presse vom 23.10. und 24.10.95; NZZ, 25.10.95.27
[29] NZZ, 25.10.95; Lit. SDA/SRG und Lit. Longchamp. Zur Diskussion um die Zauberformel im Vorfeld der Wahlen siehe oben, Teil I, 1c (Regierung).29
[30] Lit. SDA/SRG und Lit. Steppacher. Die 1992 gegründete Naturgesetz-Partei, die eine Politik auf der Grundlage der transzendentalen Meditation propagiert, erreichte im Kanton Uri mit 0,9% den höchsten Wähleranteil.30
[31] Lit. Seitz; NZZ, 4.12.95.31
[32] Presse vom 6.12.95. Zur gemeinsamen Fraktion der SP und der Kommunisten siehe auch unten, Teil IIIa (SP).32
[33] Bund, 18.9.95; LZ, 24.10.95.33