Année politique Suisse 1995 : Sozialpolitik / Bevölkerung und Arbeit
Gesamtarbeitsverträge (GAV)
Nach dem landesweiten Druckerstreik vom 3. November des Vorjahres und nach zahllosen gescheiterten Versuchen gelangten Gewerkschaften und Arbeitgeber der
graphischen Industrie im Februar zu einer Einigung über einen neuen GAV. Dabei mussten beide Seiten Abstriche an ihren Forderungen in Kauf nehmen. Die Idee der Gewerkschaften, die Arbeitszeit auf 35 Stunden pro Woche zu kürzen, wurde fallengelassen. Die Arbeitgeber konnten durchsetzen, dass die Arbeitszeit auf der Basis der 40-Stunden-Woche mit Zustimmung der Betriebskommissionen flexibilisiert werden kann. Die Arbeitnehmer dagegen erreichten, dass die vorher hart umkämpften Schichtzulagen praktisch unverändert bleiben. Neu wird der Teuerungsausgleich jährlich verhandelt, und die Arbeitgeber gewähren einen Mutterschaftsurlaub von 16 Wochen
[34]. Doch bereits bei der Aushandlung des Teuerungsausgleiches für 1996 gab es erneut unüberbrückbare Differenzen, worauf die Gewerkschaften die Schiedsstelle anriefen, welche festlegte, dass die Löhne für 1996 generell um 1% und individuell um 0,5% erhöht werden. Die Sozialpartner stimmten - wenn auch widerwillig - diesem Kompromiss zu
[35].
Weiterhin in einem vertragslosen Zustand blieben die
Journalisten der Deutschschweiz und des Tessin. Die Zeitungsverleger lehnten den zuvor mit den Gewerkschaften ausgehandelten Vertrag zwar nicht durchwegs ab, doch verlangten sie Nachverhandlungen in den Bereichen Teuerungsausgleich, Wochenarbeitszeit und Stellung der freien Mitarbeiter. Die Journalisten-Verbände verweigerten dies vorerst, da bereits in den vorangegangenen zweieinhalbjährigen Verhandlungen beide Seiten Konzessionen gemacht hätten, weshalb der Spielraum jetzt ausgeschöpft sei. Ende Jahr stimmten sie einer Wiederaufnahme der Gespräche aber wieder zu
[36].
Die
Swissair kündigte im Frühling den GAV mit der Pilotengewerkschaft (Aeropers) auf Ende Jahr. Der Streit um einen neuen GAV wurde von beiden Seiten verbissen geführt. Ende Jahr drohte der Berufsverband des Cockpit-Personals mit einer Vollversammlung, was einem Warnstreik gleichkommen würde, da an der Vollversammlung alle Verbandsmitglieder - im Fall von Swissair 98% der Piloten - anwesend sein müssen. Die Swissair konterte dies, indem sie ihre Tochtergesellschaft Crossair enger an die Mutterfirma anband, wodurch sie vom niedrigeren Lohnniveau der Crossair-Piloten profitieren kann
[37].
Im
Gastgewerbe war es die Gewerkschaft, welche den seit 1992 gültigen Vertrag auf Mitte 1996 kündigte. Die Union Helvetia warf den Arbeitgebern Vetragsbruch vor, weil diese sich weigerten, die gemäss GAV verbindliche jährliche Anpassung der Löhne an die veränderten Lebenskosten vorzunehmen
[38].
Einen Streit grundsätzlicher Natur fochten die Gewerkschaften und die Arbeitgeber der
Basler Chemie aus. Angesichts der seit Jahren bestehenden Tendenz in der chemischen Industrie, die gesamtarbeitsvertraglichen Regelungen durch den Abschluss von Einzelverträgen auszuhebeln, schlossen sich die Gewerkschaften erstmals mit den Angestelltenverbänden zusammen und verlangten einen
Einheitsvertrag für alle Chemie-Beschäftigten. Der Verband Chemischer Industrieller erteilte diesbezüglichen Verhandlungen umgehend eine Absage, da ein Einheitsvertrag die unternehmerische Freiheit einschränke und zu Inflexibilität führe. In den anlaufenden Gesprächen blieben die Arbeitgeber hart. Sie lehnten alle Forderungen der Verbände (Erhöhung der Löhne um 3%, Massnahmen zur Sicherung der Arbeitsplätze) ab und verlangten den Übergang zu internen Verhandlungen auf der Ebene der Betriebskommissionen. Lohnerhöhungen wollten sie nur individuell und im Rahmen von 1% gewähren, worauf die Vertragsverhandlungen Ende Jahr erfolglos abgebrochen wurden
[39].
Der seit 1993 gültige GAV in der
Maschinen- und Metallindustrie sah vor, dass sich die Sozialpartner bis Ende 1995 auf die Weiterführung oder Aufhebung des "Krisenartikels" hätten einigen sollen, der zur Überwindung wirtschaftlicher Schwierigkeiten längere Arbeitszeiten bei gleichem Lohn oder Streichung des 13. Monatslohns ermöglicht. In den zweieinhalb Jahren seines Bestehens hatten etwa 40 der rund 600 Mitgliederfirmen diesen Paragraphen angerufen, wobei es auch nach Einschätzung der Gewerkschaften keine Missbräuche gegeben hat. Da Mitte Jahr der
Krisenartikel nur noch in zwei Betrieben zur Anwendung kam, stellten die Gewerkschaften die Forderung, ihn abzuschaffen. Die Arbeitgeber verweigerten dies mit der Begründung, auch wenn der Paragraph momentan kaum mehr zur Anwendung gelange, stelle er doch ein sinnvolles Notventil dar. In mehreren Gesprächen konnte keine Einigung erzielt werden, weshalb der Krisenartikel über das Jahresende hinaus in Kraft blieb
[40].
Zur Auswirkung gesamtarbeitsvertraglicher Bestimmungen auf die Arbeitssituation von Frauen siehe unten, Teil I, 7d (Frauen/Arbeitswelt).
Das BIGA registrierte im Berichtsjahr zwei Streikereignisse von mindestens halbtägiger Dauer. Davon waren zwei Betriebe mit insgesamt 83 Beschäftigten betroffen; 351 Arbeitstage gingen dabei verloren
[41].
[34]
BaZ, 4.2. und 3.5.95; Presse vom 18.2.95;
NZZ, 3.4. und 3.12.95;
Bund, 7.4. und 29.4.95. Vgl.
SPJ 1994, S. 200. Zum Streit um die Mindestlöhne der Frauen im graphischen Gewerbe siehe unten, Teil I, 7d (Frauen/Arbeitswelt).34
[35]
BaZ, 16.10.95;
LZ, 25.10.95; Presse vom 14.11.9535
[36] Presse vom 7.11. und 18.12.95;
TA, 10.11.95. Siehe auch unten, Teil I, 8c (Presse).36
[37]
LNN, 10.1., 30.3. und 28.12.95;
TA, 10.11.95;
Ww, 23.11.95.37
[38]
NQ, 21.11.95; Presse vom 7.12.95.38
[39]
BaZ, 7.4., 9.5., 13.5., 11.11., 18.11., 12.12. und 14.12.95;
SoZ, 12.11.95.39
[40]
TA, 19.8.95; Presse vom 5.1.96. Vgl.
SPJ 1994, S. 200 f.40
[41] Provisorische Angaben des BIGA; detaillierte Zahlen werden voraussichtlich in
Die Volkswirtschaft, 69/1996, Nr. 7 oder 8 publiziert.41
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