Année politique Suisse 1995 : Sozialpolitik / Sozialversicherungen
 
Krankenversicherung
Mit Ungeduld erwarteten die Krankenversicherer die Veröffentlichung der neuen Leistungsverordnung, befürchteten sie doch gewaltige Mehrkosten durch den vorgesehenen Ausbau der Pflichtleistungen in der Grundversicherung. Der vom EDI rund drei Monate vor Inkrafttreten des neuen KVG vorgelegte Katalog bemühte sich in erster Linie, bisherige Lücken zu schliessen. So wurden die Vorsorgeuntersuchungen bei Mutterschaft von vier auf acht angehoben, wobei allerdings die Ultraschall-Untersuchungen - ausser bei Risikoschwangerschaften - gestrichen wurden, da deren Wirksamkeit nicht erwiesen sei; die individuelle Prävention vor allem im Vorschulalter wurde verstärkt. Neu müssen in der Spitex-Pflege sämtliche Kosten für Untersuchungen, Behandlungen und Pflegemassnahmen von den Krankenversicherungen übernommen werden. Das EDI kam den Versicherern aber insofern entgegen, als die Kosten für die Haushalthilfe nicht entschädigt werden. Mit rund 800 Mio Fr. macht der Spitex-Ausbau dennoch knapp die Hälfte der gesamten geschätzten Mehrkosten von 1,7 Mia Fr. aus [37].
Ende Jahr stellte sich heraus, dass rund 450 Mio Fr. der für die individuellen Prämienverbilligungen vorgesehenen knapp 1,9 Mia Fr. Bundesgelder von den Kantonen für 1996 nicht beansprucht werden. Einzig die Westschweizer Kantone sowie Uri, Tessin, Thurgau, Appenzell Innerrhoden und Basel-Stadt zeigten sich bereit, durch eine Erhöhung der eigenen Prämienverbilligungsbeiträge die entsprechende volle Bundessubvention auszulösen. Der Kanton Bern beanspruchte 90%, Baselland 57%, alle anderen Kantone hingegen lediglich 50%. Insgesamt werden 1996 so rund 660 Mio Fr. bzw. 25% der Bundesbeiträge, die ursprünglich an die Krankenkassenprämien von Versicherten in bescheidenen finanziellen Verhältnissen hätten ausbezahlt werden sollen, von den Kantonen nicht umgesetzt. Dies veranlasste linke Abgeordnete beider Kammern (Jöri, sp, LU und Zisyadis, pda, VD im Nationalrat sowie Brunner, sp, GE im Ständerat), parlamentarische Vorstösse einzureichen, damit durch einen dringlichen Bundesbeschluss die nicht ausbezahlten Bundesbeiträge rückwirkend als zusätzliche Prämienverbilligung für weniger begüterte Familien mit Kindern oder in Ausbildung stehenden Jugendlichen ausgerichtet werden können [38].
Der Nationalrat überwies ein Postulat Wick (cvp, BS), welches den Bundesrat einlädt, unverzüglich Massnahmen zu treffen, um gezielt die Sicherung der Qualität und den zweckmässigen Einsatz der obligatorisch versicherten Leistungen zu ermitteln und systematisch wissenschaftlich zu überprüfen [39].
 
[37] AS, 1995, S. 4964 ff.; CHSS, 1995, S. 236 ff.; Presse vom 9.8. und 30.9.95. Zur Hauptverordnung siehe AS, 1995, S. 3867 ff.; CHSS, 1995, S. 209 ff.; Presse vom 24.1.95; NZZ, 11.4. und 28.6.95. Für die vom BSV rückwirkend auf den 1.1.1995 eingeführte Kürzung der Bundessubventionen an die Spitex-Organisationen vgl. Amtl. Bull. NR, 1995, S. 1605 und 1667 f. Zum Debakel bei der "Artisana", welche seit Jahren vorwiegend "gute" Risiken zu konkurrenzlos tiefen Prämien versichert hatte, siehe Facts, 1.6.95; Presse vom 1.7.-8.7.95; Bund, 13.7. und 10.8.95; BZ, 22.7.95; Presse vom 4.8.95. Die Artisana gliederte sich schliesslich der Helvetia an (Bund, 21.11.95). Mit der Fusion von Grütli, KKB und Evidenzia zur "Visana" entstand ein neuer "Riese" unter den KK, welcher künftig 1,1 Mio Versicherte vertritt (Bund, 30.6.95).37
[38] BBl, 1995, III, S 320 (Übersicht über die maximalen Beiträge von Bund und Kantonen); Verhandl. B.vers., 1995, V, Teil I, S. 27 sowie Teil II, S. 104 und 109. Siehe auch die Ausführungen des BR in Amtl. Bull. NR, S. 2451 f. Mit einem Postulat möchte NR Jöri den BR zudem beauftragen, dem Parlament jährlich einen Bericht über die Entwicklung in den Kantonen vorzulegen (Verhandl. B.vers., 1995, V, Teil II, S. 100); Cash, 21.7.95; NZZ, 27.11.95; Presse vom 22.12.95. Zu den Diskussionen um die Prämienerhöhungen für 1996, die oftmals in einem relativ "luftleeren" Raum stattfanden (und die deshalb hier nur ansatzweise wiedergegeben werden), siehe Presse vom 22.8. und 12.10.95; NQ, 26.10., 6.12. und 11.12.95; BZ, 20.12. und 23.12.95. Das BSV rechnete mit einem durchschnittlichen Wachstum von 25%, wobei der Zuwachs nicht allein dem neuen KVG angelastet werden kann; eine Dämpfung des Kostenanstiegs wird ab 1996 durch die individuellen Prämienverbilligungen sowie längerfristig durch den Wettbewerb unter den KK erwartet (CHSS, 1995, S. 241; SHZ, 24.8.95).38
[39] Amtl. Bull. NR, 1995, S. 1604.39