Année politique Suisse 1995 : Sozialpolitik / Soziale Gruppen
Flüchtlinge
Nach einem starken Rückgang im Vorjahr
stieg die Zahl der neuen Asylgesuche 1995 wieder
um 5,5% auf 17 021. Ausschlaggebend für diese Entwicklung war die Zunahme von Gesuchen aus
Restjugoslawien. Im Berichtsjahr wurden 5491 Asylgesuche aus Serbien oder Montenegro gestellt gegenüber 4424 im Vorjahr. Zugelegt hat ebenfalls die Zahl der Asylbewerber aus Bosnien, und zwar um 5,7% auf 3534 Personen. Prozentual am stärksten gestiegen sind die Asylgesuche von Menschen aus der Türkei (+21%), während die Gesuche von Tamilen um fast 30% zurückgingen. Mit 14,9% erreichte die
Anerkennungsquote den höchsten Stand seit zehn Jahren
[18].
Der Ständerat behandelte als erster den Antrag des Bundesrates, die
Volksinitiative der SD
"
für eine vernünftige Asylpolitik" für
ungültig zu erklären und jene der SVP "
gegen die illegale Einwanderung" Volk und Ständen zur
Ablehnung zu empfehlen. In einer längeren Grundsatzdebatte machten sich nur gerade Schmid (cvp, AI) und Morniroli (lega, TI) aus verfassungsrechtlichen Überlegungen dafür stark, die SD-Initiative, deren Inhalt gegen zwingende und direkt anwendbare Normen des Völkerrechts verstösst, den Stimmbürgern vorzulegen. Dies wurde mit 32 zu zwei Stimmen deutlich abgelehnt. Die SVP-Initiative verwarf die kleine Kammer ohne eigentliche Diskussion mit 28 zu sechs Stimmen
[19].
In der Vernehmlassung zum Arbenz-Bericht über eine schweizerische Migrationspolitik (s. oben) sprach sich die FDP dafür aus, die Schweiz solle sich für eine "Anpassung" der Genfer Flüchtlingskonvention einsetzen. Ihrer Ansicht nach ist das Prinzip des
Non-refoulement nicht mehr zeitgemäss, weil es dem Missbrauch des Asylverfahrens bzw. den gewandelten Motiven vieler Asylbewerber nicht mehr gerecht werde. Eine Aufkündigung der Konvention, wie sie die Volksinitiative der SD verlangt, kommt für die FDP aber nicht in Frage
[20].
Für die Äusserungen des Bundesrates zur Flüchtlingspolitik der Schweiz während des 2. Weltkrieges siehe oben, Teil I, 1a (Grundsatzfragen).
Ende Jahr leitete der Bundesrat dem Parlament seine Botschaft zur Totalrevision des Asylgesetzes zu. Kernstück der Revision, die auch Änderungen beim Bundesgesetz über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer (ANAG) bedingt, bildet die neue Regelung über die vorübergehende Schutzgewährung sowie die Rechtsstellung der schutzbedürftigen Ausländer (Status für Gewaltflüchtlinge). Als schutzbedürftig gelten Personen, die nicht individuell verfolgt werden und deshalb die Flüchtlingseigenschaft nicht erfüllen, die aber aufgrund von kriegerischen Ereignissen in ihrem Heimatstaat einen vorübergehenden Schutz benötigen. Für diesen Personenkreis soll inskünftig der Bundesrat entscheiden können, ob und wie vielen Personen vorübergehend ein Aufenthalt in der Schweiz zu gewähren ist. Schutzgewährungen sollen in der Regel erst erfolgen, wenn die Hilfe vor Ort nicht mehr ausreicht und nur eine Aufnahme ausserhalb der Konfliktregion den nötigen Schutz bieten kann. Die Betroffenen sollen in ihre Heimatstaaten zurückkehren, sobald dies die Situation erlaubt. Aus diesem Grund soll ihre Betreuung auch nicht im Zeichen der Integration, sondern in jenem der Rückkehrfähigkeit stehen.
Neu regeln will die Landesregierung auch die sogenannten
Härtefälle im Asylbereich. In Zukunft sollen das Bundesamt für Flüchtlinge oder die Asylrekurskommission abschliessend entscheiden, ob bei der asylsuchenden Person eine schwerwiegende persönliche Notlage vorliegt und eine vorläufige Aufnahme angeordnet werden kann, wenn vier Jahre nach Einreichen des Asylgesuchs noch kein rechtskräftiger Entscheid vorliegt. Damit würde ein relativ kompliziertes Verfahren aufgegeben und das heute letztinstanzlich zuständige Bundesgericht entlastet. Mit einem Systemwechsel strebt der Bundesrat auch im
Fürsorgebereich kostengünstigere Lösungen an. Neu sollen die Abgeltungen des Bundes für die Fürsorgeleistungen an anerkannte Flüchtlinge in der Form einer Pauschale ausgerichtet werden. Zudem sollen in diesen Fällen nicht mehr die Hilfswerke für die Fürsorge zuständig sein, sondern die Kantone
[21].
Da die Totalrevision des Asylgesetzes nicht, wie ursprünglich vorgesehen, bis Ende 1995 bereinigt werden konnte, stimmten beide Kammern praktisch diskussionslos einer
Verlängerung des dringlichen Bundesbeschlusses von 1990 über das Asylverfahren um weitere zwei Jahre zu. Eine Mehrheit der nationalrätlichen Kommission beantragte vergeblich eine Verlängerung bis Ende 1998, um Fragen rund um die Asylpolitik ohne Hektik angehen zu können
[22].
Rund 10 000 Personen aus
Bosnien-Herzegowina können ein weiteres Jahr in der Schweiz bleiben. Der Bundesrat verlängerte die seit April 1993 geltende Sonderregelung um zwölf Monate bis Ende April 1996. In deren Genuss kommen in erster Linie Saisonniers, denen die Rückreise in ihre Heimat nach Ablauf der Bewilligung nicht zugemutet werden kann. In zweiter Linie geht es um Menschen, die seinerzeit als Kurzaufenthalter in die Schweiz gekommen sind und deren Bewilligung oder Visum inzwischen abgelaufen ist
[23]. Ebenfalls verlängert (bis Ende Juli 1996) wurde die Ausreisefrist für abgewiesene Asylbewerber aus dem
Kosovo, da sich die Bundesrepublik Jugoslawien weiterhin weigert, diesen die Wiedereinreise zu gestatten
[24]. Ende Jahr verlängerte der Bundesrat das Rückführungsabkommen mit
Sri Lanka um weitere zwei Jahre, obgleich er anfangs November wegen der kriegerischen Ereignisse im Inselstaat die Ausschaffungen bis auf weiteres sistiert hatte
[25].
Das Bundesgericht taxierte die
Praxis des Bundesamtes für Flüchtlinge (BFF), Asylsuchende ohne gültige Ausweispapiere an den Empfangsstellen abzuweisen, als
gesetzeswidrig und bestimmte, dass auf jeden Fall ein Asylverfahren aufgenommen werden muss. Es verwies in diesem Zusammenhang auf Art. 13 des Asylgesetzes, der festhält, dass ein gültiges Asylgesuch vorliegt, sobald ein Ausländer schriftlich, mündlich oder auf andere Weise zu erkennen gibt, dass er die Schweiz um Schutz vor Verfolgung ersucht. Das BFF hob daraufhin die umstrittene Weisung auf
[26].
Ein im Auftrag der Geschäftsprüfungskommission des Nationalrates erstelltes externes Gutachten erhob
schwere Vorwürfe gegen die Asylrekurskommission (ARK). Im Gutachten war nicht nur von einzelnen Verfehlungen, sondern auch von grundsätzlichen Mängeln die Rede. So wurden offensichtlich Gesuche um unentgeltliche Rechtspflege ohne Begründung abgelehnt, was laut dem Gutachten einer "Rechtsverweigerung" gleichkommt. Erstaunlich erschien dem Gutachter auch die hohe Zahl von einzelrichterlichen Verfahren. Der Rechtsexperte hielt es für schwer vorstellbar, dass nur jeder zehnte Beschwerdeführer etwas vorzubringen haben soll, das einer genaueren Abklärung durch ein Gremium mit mehreren Richtern bedarf. Als problematisch wurde zudem eingeschätzt, dass die ARK-Richter kaum Zeugen einvernehmen und die Urteilsbegründung häufig auf das erstinstanzliche Urteil verweist
[27].
[18] Presse vom 4.1.96.18
[19]
Amtl. Bull. StR, 1995, S. 334 ff.; Presse vom 17.3.95. Für eine staatsrechtliche Würdigung der Debatte siehe oben, Teil I, 1c (Volksrechte).19
[21]
BBl, 1996, II, S. 1 ff.; Presse vom 5.12.95. In der Vernehmlassung war die Einführung eines Status für Gewaltflüchtlinge kaum bestritten gewesen, die Kantonalisierung der Fürsorgeleistungen hingegen schon (Presse vom 20.6.95). Zur Entlastung des Bundesgerichts in Asylfragen siehe auch
Amtl. Bull. NR, 1995, S. 2697 ff.21
[22]
BBl, 1995, I, S. 373 ff.;
Amtl. Bull. NR, 1995, S. 505 f. und 1693;
Amtl. Bull. StR, 1995, S. 592 f.
und 797;
BBl, 1995, III, S. 556 f. Siehe
SPJ 1994, S. 235.22
[23] Presse vom 30.3.95. Für eine Debatte im NR zur Rückkehr der Bosnien-Flüchtlinge siehe
Amtl. Bull. NR, 1995, S. 2604 ff. sowie die Ausführungen des BR
a.a.O., S. 2452.23
[24] Presse vom 19.1. und 19.12.95.24
[25]
TA, 5.1.95;
NQ, 7.6.95; Presse vom 19.12.95
.25
[26] Presse vom 3.5. und 4.5.95;
Lit. Gattiker und
Lit. Haefeli. Siehe auch die Ausführungen des BR in
Amtl. Bull. NR, 1995, S. 2695 ff. Die Praxis des BFF war im Vorjahr bereits von der GPK des NR kritisiert worden (
SPJ 1994, S. 235).26
[27]
Bund, 18.12.95;
SoZ, 19.11.95. Für Querelen innerhalb der ARK siehe Presse vom 19.4.95.27
Copyright 2014 by Année politique suisse