Année politique Suisse 1995 : Sozialpolitik / Soziale Gruppen / Stellung der Frau
Nachdem der Ständerat im Vorjahr signalisiert hatte, dass er nicht bereit war, alle vom Nationalrat eingefügten Änderungsvorschläge zur Abschwächung des Bundesgesetzes über die Gleichstellung von Frau und Mann ("Gleichstellungsgesetz") hinzunehmen, schwenkte auch die grosse Kammer auf eine moderat frauenfreundlichere Linie ein. Mit 111:58 Stimmen dehnte sie das Diskriminierungsverbot wieder auf alle Tatbestände zwischen Anstellung und Auflösung des Arbeitsverhältnisses aus. Das Zünglein an der Waage spielten hier die CVP-Vertreter, welche sich - gleich wie alle weiblichen Abgeordneten mit Ausnahme der Berner Freisinnigen Aubry und der Waadtländer Liberalen Sandoz - in dieser Frage dem rot-grünen Lager anschlossen.
Erneut keine Chancen hatte hingegen eine über Klagen bezüglich Lohndiskriminierung hinausgehende Beweislastumkehr, bei welcher eine auf Diskriminierung klagende Person vor Gericht nur glaubhaft machen muss, dass eine geschlechtsbedingte Diskriminierung vorliegt, worauf es dann am Arbeitgeber ist zu beweisen, dass dies nicht zutrifft. Mit 89 zu 87 Stimmen bei zwei Enthaltungen lehnte es der Nationalrat äusserst knapp ab, die erleichterte Beweisführung für das ganze Arbeitsverhältnis gelten zu lassen. Hier sprachen sich nur gerade noch drei bürgerliche Frauen - Nabholz (fdp, ZH), Gadient (svp, GR) und Lepori Bonetti (cvp, TI) - für die frauenfreundlichere Variante aus.
Entgegen seinem ersten Entscheid schloss sich der Nationalrat der kleinen Kammer hingegen beim
Verbandsklagerecht an. Dieses berechtigt Gewerkschaften und Frauenorganisationen, in eigenem Namen feststellen zu lassen, dass eine Diskriminierung für einen Einzelfall oder eine ganze Berufsgruppe vorliegt. Eine vom Arbeitgeber-Vertreter Allenspach (fdp, ZH) angeführte Minderheit wollte das Verbandsklagerecht einschränken, indem bei Einzelklagen im Gegensatz zu Kollektivklagen das Einverständnis der betroffenen Arbeitnehmerin eingeholt werden müsste. Diese Einschränkung unterlag ebenfalls knapp mit 86 zu 84 Stimmen
[41].
Bei der verbleibenden wesentlichen Differenz (Regelung der Beweislast) erteilte der
Ständerat der restriktiven Haltung der grossen Kammer erneut eine Absage. Als Kompromissvariante schlug er aber vor, die
Anstellung von der
erleichterten Beweisführung
auszunehmen und diese nur auf die Aufgabenzuteilung, die Aus- und Weiterbildung, die Entlöhnung, die Beförderung und die Entlassung zu beschränken. Mit 93:66 Stimmen schloss sich der Nationalrat hier an, so dass das Gesetz in der Frühjahrssession definitiv verabschiedet werden konnte
[42].
Jeder sechste Gesamtarbeitsvertrag (GAV) weist Lohnkategorien auf, die Frauen diskriminieren. Gemäss einer Studie, die im Rahmen des NFP 35 ("Frauen in Recht und Gesellschaft") ausgearbeitet wurde, sind direkte Lohndiskriminierungen zwar - zumindest in den grossen GAV - seltener geworden. Von den 69 grössten GAV, denen 1993 1,24 Mio Beschäftigte (88% aller GAV-Arbeitnehmenden) unterstellt waren, sahen nur noch zwei tiefere Löhne für Frauen vor. Erheblich mehr direkte Lohndiskriminierungen sind in kleineren GAV auszumachen. Zudem sind in allen GAV häufig indirekte Benachteiligungen an die Stelle der direkten getreten, beispielsweise wenn die Kategorien "Frau" und "Mann" durch "leichte Arbeiten" und "schwere Arbeiten" ersetzt wurden.
Die Studie zeigte, dass die
GAV in Gleichstellungsfragen zwiespältig sind. Einerseits widerspiegeln sie die Benachteiligung der Frauen im Erwerbsleben, andererseits steckt in den Verträgen durchaus ein Potential zur Gleichstellung der Geschlechter. Im Gegensatz zu den Männern, die grösstenteils Vollzeitstellen besetzen, arbeiten Frauen zu über 50% als Teilzeitangestellte, vor allem wenn sie Kinder haben. Teilzeitarbeitsverhältnisse werden aber von jedem dritten GAV zumindest teilweise ausgeschlossen. Klare Benachteiligungen gibt es auch bei den Bestimmungen bezüglich der Regelung des Überstundenzuschlags. Nur gerade drei GAV sehen vor, dass dieser Zeitzuschlag bereits ab Überschreitung des Teilzeitpensums zu entrichten ist. Andererseits gibt es für 96% aller GAV-unterstellten Frauen eine Mutterschaftsregelung. Auch bei der bezahlten Freistellung zur Pflege kranker Kinder füllen die GAV teilweise eine gesetzliche Lücke. Knapp ein Viertel der Verträge mit einer Drittel aller GAV-Angegliederten enthalten einen Anspruch, der zwei bis fünf Tage pro Jahr beträgt. Aber nur gerade sechs GAV, die 16% aller GAV-unterstellten Frauen umfassen, bekennen sich explizit zur Chancengleichheit und enthalten besondere Bestimmungen zur Frauenförderung
[43].
Die Sozialpartner des
Buchbindergewerbes beendeten den seit 1991 andauernden Konflikt um Frauenlöhne und einigten sich vor dem Berner Appellationsgericht darauf, dass die angefochtene GAV-Bestimmung verfassungswidrig sei. Die Parteien verpflichteten sich, ihre Mitglieder anzuhalten, keine Gesamt- und Einzelarbeitsverträge abzuschliessen, die für Frauen tiefere Mindestlöhne vorsehen als für Männer
[44].
Der Fall der Basler Kindergärtnerinnen, die sich im Vorjahr erfolgreich gegen
Lohndiskriminierung gewehrt hatten, scheint Schule zu machen. In mehreren Kantonen wurden
Klagen von Frauen aus sozialen und pädagogischen Berufen gegen die zu tiefe Bewertung ihrer Arbeit eingereicht oder angekündigt
[45].
Für die Aufhebung des Nachtarbeitsverbots für Frauen in der Industrie siehe oben, Teil I, 7a (Arbeitszeit).
In Ausführung eines Postulates Stamm (cvp, LU) aus dem Jahr 1993 erarbeitete das BIGA eine
Weiterbildung im Baukastensystem, die bereits 1996 angeboten werden soll. Dieses modulare System kommt durch seine Flexibilität vor allem den spezifischen Berufs- und Lebenssituationen der Frauen entgegen. Das BIGA hob hervor, der etappenweise Wiedereinstieg werde damit zeitlich besser verkraftbar und die psychologische Hemmschwelle für die Aufnahme einer beruflichen Weiterbildung kleiner. Auch die Finanzierung verursache weniger Probleme als jene von integralen Lehrgängen. Als besonders frauenfreundlich strich das BIGA die Anrechnung von Familien- und Betreuungspraxis hervor, da vorgesehen ist, dass Lernleistungen und Erfahrungen aus familiären oder gemeinnützigen Tätigkeiten ganz oder teilweise anerkannt werden
[46].
[41]
Amtl. Bull. NR, 1995, S. 185 ff.; Presse vom 1.2.95. Siehe
SPJ 1994, S. 238 f.41
[42]
Amt. Bull. StR, 1995, S. 317 ff. und 439;
Amtl. Bull. NR, 1995, S. 761 ff. und 1008 ff. In der Schlussabstimmung im NR wurde das neue Gesetz lediglich von Vertretern des rechtsbürgerlichen Lagers abgelehnt. Als einzige Frau stimmte Sandoz (lp, VD) dagegen. Die ebenfalls sehr kritische Berner FDP-Nationalrätin Aubry enthielt sich der Stimme. Das von Arbeitgeber- und Gewerbekreisen angedrohte Referendum wurde nicht ergriffen (
NZZ, 8.4., 12.4. und 17.7.95), weshalb das Gesetz auf den 1. Juli 1996 in Kraft treten kann (Presse vom 27.10.95).42
[43]
Lit. Baumann;
TA, 27.11.95. Eine im Frühjahr 1995 im Auftrag des Schweizerischen Kaufmännischen Verbandes durchgeführte Studie, die über 10 000 Einzellöhne in 350 Unternehmen umfasste, zeigte, dass die Frauen in Sachen Lohn umso mehr benachteiligt sind, je älter und je höher sie auf der Karriereleiter gestiegen sind. Für gleiche Arbeit erhalten die Frauen - bei gleicher Funktionsstufe, Branche und Alter - bis zu 35% weniger Lohn als Männer (Presse vom 9.6.95). Für weitere vergleichende Studien zur Stellung der Frauen im Berufsleben bzw. zur Lohndiskriminierung von Frauen siehe auch oben, Teil I, 7a (Arbeitswelt und Löhne).43
[44]
NZZ, 3.7.95; Presse vom 1.12.95. Vgl.
SPJ 1992, S. 253.44
[45]
LNN, 2.2. und 12.9.95;
TA, 20.2. und 21.6.95;
Bund, 25.4.95;
LZ, 13.9.95. Siehe
SPJ 1994, S. 240.45
[46] Presse vom 29.3.95. Vgl.
SPJ 1993, S. 252.46
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