Année politique Suisse 1995 : Sozialpolitik / Soziale Gruppen / Familienpolitik
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Scheidungsrecht
Im Herbst leitete der Bundesrat dem Parlament seinen Entwurf zur Revision des Ehescheidungsrechts zu. Für das federführende EJPD galt es, den entsprechenden, noch aus dem Jahr 1907 stammenden Teil des Zivilgesetzbuches den heutigen gesellschaftlichen Gegebenheiten anzupassen. Zentraler Punkt ist der konsequente Verzicht auf die Verschuldensfrage. Die Konventionalscheidung soll in Zukunft die Regel werden. Aber nicht nur für die Scheidung selbst, auch bei der Festlegung des Unterhalts sollen inskünftig nur noch objektive Kriterien massgebend sein. Unabhängig vom Güterstand werden bei einer Scheidung in Zukunft die Ersparnisse der zweiten Säule (Pensionskasse) hälftig geteilt. Diese Regelung soll zu materiell ausgewogeneren Folgen für die Scheidungsbeteiligten führen und die wirtschaftliche Selbständigkeit der Ehegatten nach der Scheidung fördern.
Als weiteren Pfeiler der Revision bezeichnete Bundesrat Koller die Verbesserung der Stellung der Kinder während und nach dem Scheidungsverfahren. So erhalten die Kinder neu ein Mitwirkungsrecht im Scheidungsprozess. Vorgesehen ist, dass Kinder mit Rücksicht auf ihr Alter und ihre Entwicklung in "geeigneter Weise" angehört werden, beispielsweise in der Frage, bei welchem Elternteil sie inskünftig mehrheitlich leben werden. Neu können die Eltern auch nach der Scheidung das elterliche Sorgerecht gemeinsam wahrnehmen, wenn sie sich in diesem Punkt einigen können und weitere Voraussetzungen erfüllt sind. Das Besuchsrecht wird als gegenseitiges Recht von Eltern und Kindern ausgestaltet. Damit werden die Eltern grundsätzlich zur Ausübung des Besuchsrechts verpflichtet. Das EJPD räumte ein, dass die zwangsweise Durchsetzung dieses Rechtes gegen den Willen der Eltern in der Praxis kaum realisierbar sei, erhofft sich davon aber eine psychologische Wirkung [57].
1989 bei der Nomination von Franz Steinegger (fdp, UR) für die Bundesratswahl und 1993 bei der "Schlammschlacht" gegen die Bundesratsanwärterin Christiane Brunner (sp, GE) war das mehr oder minder "unorthodoxe" Familienleben der beiden Kandidaten - zumindest hinter vorgehaltener Hand - im Zentrum der Polemik gestanden. Dass dies bei der Wahl von Bundesrat Moritz Leuenberger (sp, ZH), der mit seiner Lebenspartnerin im Konkubinat lebt und aus dieser Verbindung einen Sohn hat, in keiner Hinsicht ein Thema war, zeigte, dass zumindest die eidgenössischen Parlamentarierinnen und Parlamentarier die heutige Familienrealität, in der jede dritte neugeschlossene Ehe wieder geschieden wird, anerkennen und die Brüche in den Lebensläufen als nicht diskriminierende Tatsache akzeptieren. Zu den Details der Bundesratswahl siehe oben, Teil I, 1c (Regierung).
 
[57] BBl, 1996, I, S. 1 ff.; Presse vom 22.11.95. Zu den neuesten Zahlen des BSF zur Scheidungsrate siehe LZ, 15.7.95. Eine Motion Zwygart (evp, BE) zur Harmonisierung der Alimentenbevorschussung wurde auf Antrag des BR abgelehnt, da dies eindeutig in den Hoheitsbereich der Kantone gehört (Amtl. Bull. NR, 1995, S. 2656 f.).57