Année politique Suisse 1995 : Bildung, Kultur und Medien / Kultur, Sprache, Kirchen
 
Kirchen
Nach 1977 und 1980 lehnten die Stimmberechtigten des Kantons Zürich zum dritten Mal eine Vorlage zur Trennung von Kirche und Staat deutlich ab. Die ursprünglich aus SVP-Kreisen lancierte Initiative wurde im Abstimmungskampf nur noch von der FPS sowie Einzelpersonen aus dem rechtsbürgerlichen und freikirchlichen Umfeld unterstützt. Mit dem Volksentscheid behalten die evangelisch-reformierte, die römisch-katholische und die christkatholische Landeskirche, denen rund 90% der Kantonsbevölkerung angehören, unter anderem das Besteuerungsrecht und damit Einkünfte von rund 360 Mio Fr. pro Jahr [39].
Fünf Jahre nach seinem Entscheid im Kruzifix-Streit von Cadro (TI) musste sich das Bundesgericht erneut mit der Präsenz von kirchlichen Emblemen in öffentlichen Räumen beschäftigen. Diesmal ging es um die Klage eines Anwaltes gegen den Kanton Freiburg, der forderte, dass die Kruzifixe aus den Gerichtssälen sowie aus all jenen öffentlichen Räumen zu entfernen seien, in denen die Angestellten nicht ausdrücklich das Gegenteil wünschen. Das Bundesgericht wies die Klage aus formalrechtlichen Gründen ab, worauf der Kläger das Verfahren an die europäische Menschenrechtskommission weiterzog [40].
Sehr klar mit 95 gegen 7 Stimmen verwarf der Nationalrat eine Motion Zisyadis (pda, VD), welche die Schaffung eines Bundesamtes für Religionsfragen verlangte, das im Sinne eines Observatoriums die religiösen Entwicklungen in der Schweiz verfolgen sollte, wie sie etwa im Vorjahr in den Kantonen Freiburg und Wallis zum Tod durch Mord oder Selbstmord von annähernd vierzig Mitgliedern einer religiösen Vereinigung geführt hatten. Der Bundesrat lehnte die Motion ab, da aus Gründen der staatlichen Kompetenzordnung kein rechtlicher Raum für eine derartige Bundesstelle bestehe [41].
Nicht weniger als fünf der sechs in der Schweiz amtierenden katholischen Bischöfe mussten im Laufe des Jahres ersetzt werden. Da es sich dabei mehrheitlich um ein vorzeitiges Ausscheiden aus dem Kirchendienst handelte, stellte sich erneut die Frage nach der Überforderung dieser Würdenträger, welche zum Teil enorm grosse Diözesen zu verwalten haben. Seit Jahren besteht deshalb der Ruf, der aus dem "Kulturkampf" stammende Artikel 50 Absatz 4 der Bundesverfassung, welcher eine Genehmigungspflicht des Bundes zur Errichtung neuer bzw. zur Veränderung bestehender katholischer Bistümer statuiert, sei aufzuheben. Gegen den Minderheitsantrag des Genfer Liberalen Coutau, der die protestantischen Bedenken seiner traditionell calvinistischen Stadt gegen einen möglichen Bischof von Genf ins Feld führte, nahm der Ständerat eine parlamentarische Initiative Huber (cvp, AG) an, welche eine ersatzlose Streichung von Art. 50 Abs. 4 BV verlangt. Die Vorsicht, mit der alle Redner das Thema angingen, und das knappe Ergebnis (18:16 Stimmen) zeigten, dass damit eine Frage aufgegriffen wurde, die trotz der Überwindung des Kulturkampfes und der langjährigen Erfahrung mit gelebtem konfessionellem Frieden im kollektiven Empfinden heikel geblieben ist [42].
Die Neuernennungen in den Diözesen St. Gallen, Lugano, Sion und Freiburg-Lausanne-Genf gingen ohne störende Zwischentöne über die Bühne. In Sion folgte der als konservativ eingeschätzte Norbert Brunner auf Henri Schwery, der trotz seines Rücktritts als Bischof weiterhin Kardinal bleiben wird. In Lugano und Freiburg wurden - als Nachfolger des verstorbenen Bischofs Correcco und des zurückgetretenen Bischofs Mamie - mit den Prälaten Giuseppe Torti und Amedée Grab zwei Kirchenmänner zu Bischöfen ernannt, welche sich in der Vergangenheit dem ökumenischen Gedankengut gegenüber aufgeschlossen gezeigt hatten. In St. Gallen, wo der Bischof nicht vom Heiligen Stuhl bestimmt, sondern aus einer von Rom genehmigten Liste durch lokale Gremien ernannt wird, wurde erwartungsgemäss der bisherige Administrator der Bistums, Ivo Fürer, zum neuen Bischof gewählt [43].
Bedeutend medienwirksamer vollzog sich der Wechsel im Bistum Basel. Bischof Vogel, im Vorjahr als Hoffnungsträger einer verjüngten Kirche gewählt, gab anfangs Juni überraschend seinen sofortigen Rücktritt bekannt. Den Grund dafür - die Beziehung zu einer Frau, die zu einer Schwangerschaft führte - stellte er in den Zusammenhang mit den enormen menschlichen Anforderungen, welche an den geistlichen Führer des Bistums Basel gestellt werden, dem rund 1,1 Mio Katholiken angehören und welches das Gebiet von zehn Kantonen umfasst [44].
Die Wahl eines neuen Bischofs von Basel erfolgt nach einem weltweit einzigartigen Prozedere, welches auf ein Konkordat von 1828 zurückgeht. Danach üben bei einer Bischofswahl das Domkapitel und die Regierungen der betroffenen Kantone das Wahlrecht aus, worauf die gewählte Person nur noch von Rom bestätigt werden muss. Während dies bei den vorangegangenen Wahlen stets problemlos funktioniert hatte, stellte sich der Vatikan nun plötzlich quer. Zuerst verlangte er einen Aufschub der Wahl unter dem Vorwand, dass das Wahlgremium längere Bedenkzeit brauche. Nach erfolgter Wahl Ende August liess die Bestätigung so lange auf sich warten, dass in den betroffenen Kantonen immer lauter die Befürchtung geäussert wurde, der Vatikan beabsichtige mit seinem Taktieren eine Aushöhlung des Konkordats  [45].
Schliesslich forderte die Diözesankonferenz sogar das EDA auf, in Rom zu intervenieren, erhielt jedoch aus Bern vorerst eine abschlägige Antwort. Das EDA begründete dies damit, dass sich der Bund grundsätzlich nicht in religiöse Angelegenheiten einmische und nur auf Gesuch eines Kantons gehalten sei, bei einer ausländischen Regierung vorstellig zu werden. Als sich dann die Regierungen der Bistumskantone ebenfalls einschalteten, unternahm das EDA schliesslich doch eine Demarche beim Heiligen Stuhl, indem es den Brief der Bistumskantone übermittelte und um wohlwollende Prüfung des Anliegens ersuchte [46].
Anfangs Dezember bestätigte Rom dann endlich die Wahl des als Kronfavoriten gehandelten Kurt Koch, Professor an der Theologischen Hochschule Luzern. Der Vatikan bestimmte aber, dass der neue Bischof - entgegen den Gepflogenheiten - nicht in der Kathedrale Solothurn, sondern in Rom geweiht wird, was zu weiterem Unmut bei der Kirchenbasis führte, welche dies als Machtdemonstration Roms gegenüber der Lokalkirche empfand. Anlässlich der Weihe von Bischof Koch wurde eine Delegation der Bistumskantone im Vatikan vorstellig und betonte mit aller Entschiedenheit, dass eine Schmälerung der im Konkordat stipulierten Rechte keinesfalls zur Diskussion stehen könne [47].
Im Anschluss an die "Affäre Vogel" forderten über 70 000 Personen in einer Petition an die Schweizerische Bischofskonferenz die Abschaffung des Pflichtzölibats in der katholischen Kirche und die Zulassung der Frauen zur Priesterweihe. Die Unterschriften wurden von Pfarreien, basiskirchlichen Organisationen und dem Katholischen Frauenbund mit Unterstützung der Zeitschrift "Schweizerischer Beobachter" gesammelt. Die Bischofskonferenz bezeichnete die Petition als positives Zeichen der Mitsorge und versprach, den Dialog sowohl mit der Kirchenbasis als auch mit den Bischofskonferenzen der Nachbarländer Deutschland und Österreich aufzunehmen [48].
Im Beisein von Bundesrat Villiger und mit einem vom Fernsehen übertragenen Festgottesdienst konnte der Schweizerische Evangelische Kirchenbund (SEK) im Juni sein 75jähriges Jubiläum feiern. Seit 1920 vertritt der Kirchenbund seine 22 Mitgliedkirchen in gesellschaftspolitischen Fragen sowie in der nationalen und weltweiten Ökumene. Bundespräsident Villiger würdigte in seiner Ansprache das Engagement des SEK. Die christlich-ethischen Werte bildeten vorzügliche Leitlinien für eine freie und demokratische Gesellschaft. Er meinte, die Kirchen müssten Politik und Wirtschaft bisweilen "an den richtigen Pfad" erinnern [49].
Mit dem Ökumenischen Patriarchen von Konstantinopel, Bartholomaios I. besuchte Ende Jahr erstmals ein Oberhaupt der Orthodoxen offiziell die Schweiz. Nach einem Höflichkeitsbesuch bei Bundespräsident Villiger und einem Empfang beim Internationalen Olympischen Komitee in Lausanne sowie beim Genfer Staatsrat bekräftigte er vor dem Ökumenischen Rat der Kirchen in Genf die dauernde Mitgliedschaft der Orthodoxen in dieser Institution [50].
Für die Stellungnahmen von Bundesrat und Parlament zum 50. Jahrestag des Kriegsendes in Europa, in welchen unter anderem die Haltung der Schweiz gegenüber den Mitgliedern der jüdischen Glaubensgemeinschaft thematisiert wurde, siehe oben, Teil I, 1a (Grundsatzfragen). Zur Erteilung einer Konzession für eine wöchentliche religiöse Sendung auf Schweiz 4 an eine freikirchlich-evangelikal ausgerichtete private Fernseh-Produktionsgesellschaft siehe unten, Teil I, 8c (Radio und Fernsehen).
 
[39] NZZ, 16.2., 22.3., 25.3., 16.5., 31.5., 9.6., 3.7., 12.7., 19.8., 25.8., 2.9.-21.9., 30.9, 7.10. und 20.10.95; Presse vom 25.9.95.39
[40] Lib., 27.1. und 16.2.95. Siehe SPJ 1990, S. 270.40
[41] Amtl. Bull. NR, 1995, S. 2137 ff. Siehe SPJ 1994, S. 270.41
[42] Amtl. Bull. StR, 1995, S. 558 ff.; NZZ, 13.1. und 22.8.95; SGT, 14.3.95. Siehe auch SPJ 1994, S. 270. Die Obwaldner Regierung meldete bereits ihr Interesse an der Schaffung eines Bistums Innerschweiz an und verlangte eine Mitsprache der Lokalkirche bei der Bischofswahl (LNN, 18.8.95; LZ, 9.9.95).42
[43] Sion: Presse vom 20.1., 1.4. und 10.6.95. Lugano: Presse vom 2.3., 10.6. und 11.9.95. Freiburg-Lausanne-Genf: Presse vom 27.1., 4.3., 7.4., 10.11. und 27.11.95. St. Gallen: SGT, 28.2., 13.3., 15.3., 21.3. und 25.3.95; Presse vom 29.3., 31.3. und 6.6.95. Siehe auch SPJ 1994, S. 271. Von den Schweizer Bischöfen blieb einzig Bischof Haas im Amt. Er konnte in Chur das fünfjährige Jubiläum seiner Amtseinsetzung feiern, blieb aber an der Kirchenbasis nicht minder umstritten als bisher (LNN, 22.4., 22.5., 19.9. und 29.11.95; LZ, 20.5. und 7.9.95; BüZ, 20.5., 22.5. und 8.9.; NZZ, 23.5.95; CdT, 27.5.95. Vgl. SPJ 1994, S. 271). Die Bündner Regierung drohte gar, die Abschlüsse der Theologischen Hochschule Chur nicht weiter zu anerkennen, wenn die Einflussnahme von Haas nicht drastisch eingeschränkt werde (NZZ, 23.5.95; Presse vom 29.6.95).43
[44] Presse vom 3.6.95.44
[45] NZZ, 7.6., 4.7. und 11.11.95; BaZ, 17.6. und 21.10.95; Presse vom 28.6., 17.8., 22.8., 7.11. und 24.11.95; LZ, 30.9.95; Bund, 1.11.95; LNN, 4.11.95; Ww, 16.11.95.45
[46] Presse vom 7.11., 25.11. und 27.11.95; Bund, 29.11.95.46
[47] TA, 30.11.95; BüZ, 2.12.95; Presse vom 6.12., 7.12., 21.12., 22.12. und 28.12.95 sowie vom 7.1.96. Bischof Koch lieferte schliesslich eine andere Version der Haltung Roms: Weil rechtskonservative Kräfte in der Schweiz versucht hätten, durch Denunziation seine Bestätigung zu hintertreiben, habe der Papst mit der Weihe in Rom ein besonderes Zeichen setzen wollen, um zu unterstreichen, dass er hinter dem neuen Bischof stehe (Presse vom 7.3.96). Diese Sicht der Dinge wurde von der Schweiz. Bischofskonferenz bestätigt, welche die verleumderischen Kreise im innerkirchlichen Bereich ortete (Presse vom 8.3.96). Auch in St. Gallen hatten die Abklärungen des Vatikans im Vorfeld der Wahl ungewöhnlich lange gedauert. Zudem verlangte der Vatikan, dass - entgegen dem Ablauf der bisherigen Wahlen - der Name des Gewählten erst nach Information der Kurie bekanntgegeben werde (SGT, 28.2.95; Presse vom 29.3.95).47
[48] Presse vom 6.6., 10.6., 5.9., 8.9., 9.11. und 9.12.95; BüZ, 17.6.95; LZ, 22.7.95; Bund, 7.12.95.48
[49] Presse vom 19.6.95.49
[50] JdG und NZZ, 11.12.95; NQ, 12.12.95; NZZ, 18.12.95.50