Année politique Suisse 1995 : Bildung, Kultur und Medien / Medien
Presse
Nach zweieinhalbjährigen Verhandlungen schien im Herbst der
Gesamtarbeitsvertrag für die Deutschschweiz und das Tessin zwischen Journalisten und Verlegern
gescheitert zu sein. Der Schweizerische Verband der Zeitungs- und Zeitschriftenverleger (SZV) lehnte das in zähen Verhandlungen entstandene Vertragswerk ab und forderte Nachverhandlungen. Insbesondere wollte er den automatischen Teuerungsausgleich bis zu 3% auf dem Mindestlohn und die Begrenzung der wöchentlichen Arbeitszeit auf 42 Stunden nicht akzeptieren. Bei freien Journalisten forderte er eine klarere Abgrenzung zwischen regelmässiger und gelegentlicher Mitarbeit. Die Journalistenverbände lehnten Nachverhandlungen zuerst ab, da der Spielraum ausgeschöpft sei. Ende Jahr erklärten sie sich dann aber doch zu weiteren Verhandlungen für 1996 bereit
[9].
Zwischen den Sozialpartnern der
Druckindustrie kam es zu einem neuen Gesamtarbeitsvertrag, der im Mai in Kraft trat. Im letzten Jahr hatten die Gewerkschaften gesamtschweizerisch mit einem eintägigen Warnstreik Druck ausgeübt
[10].
Die PTT ging im
Streit um den defizitären Zeitungszustelldienst gegen die Verleger als Sieger hervor. Beide Räte stimmten im Berichtsjahr dem
Drittelsmodell zu, wonach das Defizit des Zeitungszustelldienstes von jährlich 270 Mio Fr.
zwischen PTT, Bund und Verlegern (je rund 90 Mio Fr.) aufgeteilt wird. Die Posttarife für den Zeitungs- und Zeitschriftentransport werden damit in drei Schritten bis 1998 um durchschnittlich 37% erhöht. Rund die Hälfte der heute 7000 Titel werden künftig nicht mehr von Vorzugstarifen profitieren. Die Verleger hatten im Vorfeld der bundesrätlichen Entscheidung die von der PTT bezifferte Kostenunterdeckung bezweifelt. Ihr Angebot belief sich auf eine Tariferhöhung um 60 bis 70 Mio Fr. zwischen 1996 und 1998. Gemäss den Verlegern stehen die Tariferhöhungen im Widerspruch zu der im neuen Postverkehrsgesetz festgehaltenen Förderung der lokalen und regionalen Presse. Weiter kritisierten sie die "Treueprämie" der PTT für Kunden, die ihren Zeitungsvertrieb gänzlich über die PTT abwickeln. Ende Oktober lancierten die Verleger unter dem Titel "PTT überrollt die Schweizer Presse" eine Inseratekampagne. Die PTT schaltete daraufhin ebenfalls Grossinserate unter dem Titel "Warum die Post den Rechenkünsten des SZV nicht folgen kann". Im Dezember beschloss der SZV, die in der Verordnung zum Postverkehrsgesetz festgelegten Tariferhöhungen beim Bundesgericht anzufechten
[11].
Ein Postulat Vollmer (sp, BE), das den Bundesrat aufforderte, bei der Ausgestaltung der Zeitungs- und Zeitschriften-Transporttarife
kleine und mittlere Zeitungen zu begünstigen wie auch Tageszeitungen, welche die Berichterstattung über das politische Tagesgeschehen gewährleisten, wurde vom Nationalrat oppositionslos überwiesen
[12].
Die beglaubigten Auflagezahlen der Schweizer Presse, wie sie alljährlich von der AG für Werbemittelforschung (Wemf) eruiert werden, wiesen für 1995 eine
stabile Presselandschaft mit stagnierenden Zeitungauflagen aus. Eine Ausnahme bildete der Westschweizer Zeitungsmarkt, wo vor allem die beiden Genfer Blätter "Tribune de Genève" (+31,3%) und "Journal de Genève" (+25%) markant vom Untergang der Traditionszeitung "La Suisse" profitierten
[13].
Die
Basler Zeitung stockte ihre Beteiligung an der Curti Medien AG auf 65% auf, nachdem sie sich im letzten Jahr zunächst mit 50% beteiligt hatte. Damit sicherte sich die Basler Zeitung hinter Ringier und TA Medien AG ihre Position unter den drei grössten Schweizer Verlagen und etablierte sich mit der Kontrolle über Medienerzeugnisse wie "Weltwoche" oder "Beobachter" auch auf dem Zürcher Medienplatz
[14].
Auf den 1. Mai traten bei der defizitären Berner Traditionszeitung "
Der Bund" die im Dezember 1994 ausgehandelten neuen Besitzverhältnisse in Kraft. Die Verlagshäuser NZZ und Ringier halten künftig je 45% des Aktienkapitals, wobei die operative Verantwortung für die Bund Verlag AG kommerziell und publizistisch bei der NZZ liegt. Die NZZ lancierte eine Anzeigekombination NZZplus, die es NZZ-Inserenten erlaubt, ihre Anzeige zum halben Preis auch im "Bund" erscheinen zu lassen
[15].
Die
"Luzerner Neuste Nachrichten" (LNN) und die "Luzerner Zeitung" (LZ) haben auf den 1. Januar 1996 ihre
Fusion angekündigt. Die LNN mit den zugehörigen "Zuger Nachrichten" werden mit der LZ und deren fünf Regionalausgaben in Zug, Schwyz, Uri, Nidwalden und Obwalden
zur "Neue Luzerner Zeitung" (NLZ) zusammengelegt. Gemäss den beiden an der neugegründeten Luzerner Medien AG beteiligten Verlagen, der Ringier-Tochter C. J. Bucher (49%) und der Luzerner Zeitung (51%), ist der Innerschweizer Pressemarkt zu klein für zwei Tageszeitungen. Damit wird dieser innert nur vier Jahren von drei auf eine Tageszeitung schrumpfen; 1991 hatten das christlichdemokratische "Vaterland" und das freisinnige "Luzerner Tagblatt" zur LZ fusioniert. Die LNN-Redaktion, die von der Zusammenlegung stärker betroffen sein wird als diejenige der LZ, zeigte sich in einer Pressemitteilung überzeugt, dass sie einen Ringier-Fehlentscheid - den Kauf des defizitären Berner "Bund" vor zwei Jahren - ausbaden müsse. Ein weiteres Opfer der Fusion LNN/LZ wird der im 117. Jahrgang stehende "Luzerner Landbote", der von der neuen Luzerner Medien AG an die Surseer Woche AG verkauft wurde. Diese stellte das Erscheinen der Lokalzeitung auf Ende 1995 ein. Die Auflage der NLZ und ihren fünf Regionalausgaben wird rund 125 000 Exemplare betragen, womit sie zur viertgrössten abonnierten Schweizer Tageszeitung avanciert. Auf dem Inserate-Markt wird sie sich dem "Swiss Pool" anschliessen. Die künftige
Pressemonopolsituation der Zentralschweiz wurde stark
kritisiert. Die NLZ hat deshalb als erste Schweizer Tageszeitung einen Leserrat als eine Art Ombudsstelle eingeführt. Der neu gegründete Verein "Projekt Zeitung" liess die Chancen einer Alternativzeitung, die das linksliberale Spektrum abdeckt, prüfen. Im November gründete er die "Pro Zeitung Verlags AG", welche ab dem 26. Januar 1996 eine zweite Luzerner Tageszeitung unter dem Titel "
Luzern heute" herausgeben wird. Die Startauflage soll 2500 Exemplare betragen. Auch im Kanton Zug wurde die Herausgabe einer zweiten Zeitung neben dem Fusionsprodukt "Neue Zuger Zeitung" geprüft
[16].
Mit einer Startauflage von rund 60 000 Exemplaren erschien ab April "
Facts" aus dem Hause der TA Media AG. Damit verfügt die Deutschschweiz erstmals seit 1982 wieder über ein Nachrichtenmagazin. Der Verlag Ringier hatte sein als Konkurrenzprodukt geplantes Projekt "Reflex" im Januar aufgrund von Marktüberlegungen zurückgezogen
[17].
Die einzige englischsprachige Schweizer Tageszeitung, "
The Geneva Post", die die internationale Bevölkerung Genfs ansprechen wollte, musste ihr Erscheinen nach nur sieben Monaten mangels genügend Interessenten einstellen
[18].
Aus dem sozialistischen Magazin "Bresche" und dem gewerkschaftlichen Forum "Diskussion", die eingestellt wurden, ging auf Beginn des Jahres 1995 das rot-grüne Monatsmagazin für neue Politik "MOMA" hervor. In der Romandie ersetzte die der PdA nahestehende Wochenzeitung "Gauchebdo" die seit 1944 bestehende Parteizeitung "Voix ouvrière".
In Bern kam es zu einem eigentlichen
"Anzeiger-Krieg"
zwischen der Berner-Tagblatt-Medien (BTM), welche die
Berner Zeitung herausgeben,
und dem Bund Verlag. Die bisherigen Herausgeber des amtlichen Publikumsorgans "Stadtanzeiger Bern", die Vereinsdruckerei Bern und die BTM, hatten den Vertrag mit der Stadt Bern per Ende 1995 gekündigt, da sie die jährliche Abgabe von 2,2 Mio Fr. als zu hoch empfanden. Die Stadt betraute deshalb im September den Bund Verlag mit der Herausgabe des "Stadtanzeigers". Anfang November warfen die Vereinsdruckerei und die BTM einen eigenen, nicht-amtlichen Anzeiger "Tagblatt für die Stadt Bern" auf den Markt, der in seiner Aufmachung dem "Stadtanzeiger" glich. Gleichzeitig gestalteten sie den "Stadtanzeiger", den sie noch bis Ende Jahr herausgeben mussten, dünner und unattraktiver, und im Impressum fehlten wichtige Inserateadressen. Der Berner Gemeinderat warf der BTM unlauteren Wettbewerb und irreführende Werbung vor. Die Vereinigung für kritische Mediennutzung Arbus verklagte die BTM auf Verletzung der Impressumspflicht und rief zum Boykott auf. Nach einer superprovisorischen Verfügung des Berner Richteramts mussten die "Tagblatt"-Herausgeber zumindest das Erscheinungsbild ihres Gratisblatts so ändern, dass es nicht mit dem "Stadtanzeiger" verwechselt werden kann. Ende November kündigte die Berner Stadtregierung den Vertrag mit der Vereinsdruckerei fristlos und liess den "Stadtanzeiger" vorzeitig beim Verlag des "Bund" herstellen
[20].
In seiner Botschaft zu einem Bundesgesetz über Finanzhilfen für die Erhaltung und Förderung der rätoromanischen und der italienischen Sprache hat sich der Bundesrat für die
Unterstützung der romanischen Presse durch den Bund als spracherhaltende Massnahme ausgesprochen. Voraussetzung ist aber, dass ein realisierbares Konzept die breite Zustimmung der Zeitungsverleger und der betroffenen Organisationen findet. Nach dem Scheitern des Zeitungsprojektes "La Vusch" verfolgte eine Interessengemeinschaft die Gründung einer romanischen
Nachrichtenagentur weiter. In der Interessengemeinschaft sind alle Verleger romanischer Zeitungen, die beiden Bündner Lokalradios, das romanische Radio und Fernsehen sowie die SDA und die romanische Dachorganisation Lia Rumantscha vertreten. Im April reichten sie bei der Bündner Regierung ein Grobkonzept ein, das den Akzent auf Dezentralisierung legt und Jahreskosten von 1,2 Mio Fr. vorsieht. Davon sollen der Bund 700 000 und der Kanton 300 000 Fr. übernehmen. Die Regierung begrüsste das Projekt, wollte sich aber nicht auf eine finanzielle Unterstützung festlegen und leitete das Projekt zur Prüfung an die Bundesbehörden weiter
[21].
Die älteste Nachrichtenagentur der Schweiz, die
Schweizerische Depeschenagentur (SDA), feierte im Berichtsjahr ihren 100. Geburtstag. Die SDA beliefert heute rund 99% aller Tageszeitungen, die SRG sowie 26 Lokalradios. Einziger Konkurrent ist nach dem Ausscheiden der Schweizerischen Politischen Korrespondenz (SPK) im Jahr 1993 die Schweizer Niederlassung der amerikanischen Nachrichtenagentur Associated Press (AP)
[22].
[9] Presse vom 7.11. und 18.12.95. Vgl.
SPJ 1994, S. 274.9
[10] Presse vom 18.2.95. Vgl.
SPJ 1994, S. 274. Siehe auch oben, Teil I, 7a (Gesamtarbeitsverträge).10
[11]
BBl, 1995, II, S. 440 ff.;
Amtl. Bull. StR, 1995, S. 394 ff. und 441;
Amtl. Bull. NR, 1995, S. 1016;
NZZ, 3.10. und 21.12.95;
SoZ, 8.10.95;
BüZ, 13.10.95; Presse vom 26.11. und 30.11.95;
Klartext, 1995, Nr. 6, S. 8 f. Siehe
SPJ 1994, S. 275. Vgl. auch oben, Teil I, 6b (PTT).11
[12]
Amtl. Bull. NR, 1995, S. 958 f.12
[13] Presse vom 13.9.95. Vgl.
SPJ 1994, S. 276.13
[14] Presse vom 22.11.95.14
[15]
Bund und
NZZ, 29.4.95. NZZplus:
TW, 29.6.95. Vgl.
SPJ 1994, S. 276.15
[16] Presse vom 15.9., 16.9. und 30.12.95 sowie 4.1.9695;
SoZ, 17.9.95. Luzern heute:
BaZ, 22.9.95;
TA, 2.10.95; Presse vom 18.10.95;
LNN, 30.12.95. Alternativprojekt Zug: Presse vom 27.12.95.16
[17] Presse vom 7.4.95. Zu "Reflex": Presse vom 26.1.95. Vgl.
SPJ 1994, S. 276.17
[18]
JdG, 16.6.95;
NZZ, 19.6.95. Vgl.
SPJ 1994, S. 276. Im März 1996 erschien die Geneva Post neu als Wochenzeitung (
JdG, 21.3.96).18
[20]
TW, 12.4.95;
Bund, 7.11.-11.11. und 14.11.95;
BZ und
BaZ, 8.11.95; Presse vom 25.11.95;
Klartext, 1995, Nr. 5, S. 17.20
[21]
BBl, 1995, II, S. 1241 ff.;
BüZ, 24.2., 28.3. und 16.6.95. Vgl.
SPJ 1994, S. 276 f. sowie oben, Teil I, 8b (Sprachgruppen).21
[22] Presse vom 31.8.95. Siehe auch
Lit. SDA.22
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