Année politique Suisse 1996 : Parteien, Verbände und Interessengruppen / Parteien
 
Parteiensystem
Zu den einzelnen Parteien vgl. auch die Tabelle Abstimmungsparolen 1996 (parolen_1996.pdf) sowie oben, Teil I, 1e (Wahlen) und die verschiedenen Sachkapitel [1].
Im letzten Jahr hatten sich die vier Bundesratsparteien auf eine intensivere Zusammenarbeit geeinigt. Auch im Berichtsjahr zeigte sich jedoch, dass sie in den wichtigen Fragen der Finanz-, Wirtschafts-, Ausländer- und Sozialpolitik zerstritten sind. So bezeichneten die Bürgerlichen die Sanierung der Bundesfinanzen als prioritär und sprachen sich für eine Stabilisierung der Sozialleistungsquote oder gar einen Abbau des Sozialstaats aus, während die SP die heutigen Defizite als nicht dramatisch einstufte und auf einem weiteren Ausbau des Sozialstaats bestand. Die SVP stand mit ihrer Volksinitiative "Gegen die illegale Einwanderung" und mit ihrem Nein zur Verwaltungs- und Regierungsreform allein auf weiter Flur [2].
Gegen Ende des Jahres äusserten FDP und SVP Zweifel an der Verlässlichkeit der CVP als bürgerliche Partnerin und warfen ihr einen Linksrutsch vor. Dabei bezogen sie sich insbesondere auf den Investitionsbonus zur Ankurbelung der Wirtschaft und auf die Ratifizierung der Europäischen Sozialcharta, für die sich die CVP zusammen mit der SP aussprach. Weiter kritisierten FDP und SVP den CVP-Widerstand gegen das SBB-Lohnopfer und insbesondere das sozialpolitisch begründete CVP-Nein zum revidierten Arbeitsgesetz. Während die SP die Entscheide der CVP begrüsste, pochte diese auf eine "eigenständige Zentrumspolitik"; einen Linksrutsch bestritt sie [3].
Welsche Parlamentarier beklagten, dass sie in den vier vorparlamentarischen Arbeitsgruppen der Bundesratsparteien, die zu Beginn des Jahres ihre Tätigkeit aufnahmen, marginalisiert würden. Unter den 32 eingesetzten Parlamentariern befinden sich nur gerade vier Westschweizer [4].
Mit 76 zu 28 Stimmen nahm der Nationalrat ein Postulat Carobbio (sp, TI) an, das die Parteien von der direkten Bundessteuer befreien will. Er folgte damit dem Bundesrat nicht, der zwar die Forderung an sich als durchaus diskutabel bezeichnete, jedoch Probleme sah bei der Abgrenzung, welche Organisation als steuerbefreite Partei gelte und welche nicht, und für eine Lösung im Rahmen einer allfälligen späteren Revision der Steuergesetze plädierte [5].
Im Dezember gründeten im Nationalrat die drei Schweizer Demokraten, der einzige Lega-Abgeordnete Flavio Maspoli (TI) sowie der Freisinnige Massimo Pini (TI) die Demokratische Fraktion. Damit sind die Schweizer Demokraten neu wieder in eine Fraktion eingebunden; Maspoli verliess die Fraktion der Freiheits-Partei. Mit Pini, der durch seinen Fraktionswechsel aus der FDP austreten musste, ist in der neuen Rechtsaussenfraktion auch ein EU-Beitrittsbefürworter vertreten [6].
Eine Untersuchung über die Lokalparteien kam zum Schluss, dass sich das Schweizer Parteiensystem in einem Aufweichungsprozess befindet. Gründe sind die schwindende Bedeutung der rund 6000 Lokalparteien, die Entfremdung der Parteispitzen von der Basis sowie die Erosion der Parteibindung der Wählerinnen und Wähler. Vor allem in den ländlichen Gebieten gehe die Zahl der Lokalparteien eher zurück. In den mittelgrossen Gemeinden würden zwar weiterhin neue Parteien gegründet, allerdings handle es sich meist um gemeindespezifische Gruppierungen und nicht um Lokalsektionen von national aktiven Parteien. Nur in den grösseren Gemeinden und Städten würden noch Lokalparteien gegründet, vor allem Sektionen von Rechtsparteien. Zudem werden immer mehr Parteilose in die Exekutiven gewählt. Bereits seien über 20% der etwa 18 000 Gemeindeexekutivämter von Parteilosen besetzt, die damit die stärkste "Partei" stellen. Die grössten Sitzverluste habe die CVP erlitten [7].
 
[1] Vgl. auch die Serie "Haben die politischen Parteien sich selbst überlebt?", in BaZ, Jan./Feb. 96 sowie C. Longchamp, "Kleinparteien in der Krise: Nach dem Opponieren kommt das grosse Studieren", in Ww, 27.6.96.1
[2] Vgl. auch NLZ, 31.8.96.2
[3] SGT, 12.10.96; Ww, 17.10.96; Presse vom 17.12.96.3
[4] JdG, 1.3.96. Vgl. SPJ 1995, S. 341 f.4
[5] Amtl. Bull. NR, 1996, S. 1536 ff.; JdG, 25.9.96.5
[6] Presse vom 10.12. und 13.12.96. Vgl. SPJ 1995, S. 350. Pini gab für seinen Wechsel finanzielle Probleme an. Auf Druck der Tessiner FDP hatte er in Biasca das Amt eines Sindaco abgeben müssen. Die neue Fraktion hat Anspruch auf rund 110 000 Fr. Bundesgelder, womit sie Pini als Sekretär einstellen konnte. Zu einer abgelehnten pa. Iv. Ruf (sd, BE), wonach fraktionslose Abordnungen künftig Mitgliederbeiträge erhalten sollen, siehe oben, Teil I, 1c (Parlament).6
[7] Lit. Ladner; NLZ, 24.7.96.7