Année politique Suisse 1996 : Parteien, Verbände und Interessengruppen / Parteien
 
Christlichdemokratische Volkspartei (CVP)
Nach nur zwei Jahren im Amt gab Parteipräsident Anton Cottier, dem auch parteiintern Profillosigkeit vorgeworfen wurde, seinen Rücktritt auf Anfang 1997 bekannt. Als Nachfolge nominierte die CVP im November ein Führungstrio mit Adalbert Durrer (OW) als Präsidenten und Rosmarie Zapfl (ZH) sowie François Lachat (JU) als Vizepräsidenten. Alle drei gehören erst seit 1995 dem Nationalrat an [18].
Die in den letzten Jahren wenig erfolgreiche CVP bekundigte den klaren Willen, ihren Rang als drittstärkste Partei vor der SVP zu verteidigen und den 1994 begonnenen parteiinternen Erneuerungsprozess zu vertiefen und zu beschleunigen. Drei Arbeitsgruppen gingen ans Werk; sie befassten sich mit der Zukunft der Partei (Gruppe Eugen David), mit der Programmatik (Gruppe Bruno Frick) und mit den eigentlichen Parteistrukturen (Gruppe Adalbert Durrer). Gestützt auf deren Vorarbeit wurden im November an einem Parteitag in Biel inhaltliche und organisatorische Neuerungen verabschiedet. Programmatisch präsentierte sich die CVP als jene aktive Gegenkraft zu den Parteien, die die Schweiz polarisierten und lähmten und betonte ihren Führungsanspruch im politischen Zentrum. Von der Rolle der Mehrheitsbeschafferin will sie wegkommen und vermehrt eigenständige Positionen erarbeiten. Im Wirtschaftsbereich reklamierte die CVP bezüglich der KMU-Politik (kleine und mittlere Unternehmen) die Führungsrolle; sie will ausserdem zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen einen neuen "contrat social" initiieren. Als zweiten Schwerpunkt nannte die Partei die soziale und familiäre Sicherheit. Die Delegierten sprachen sich für Kinderzulagen von mindestens 200 Fr. pro Monat aus sowie - gegen den Widerstand des Wirtschaftsflügels - für die Schaffung einer Mutterschaftsversicherung für Mütter im unteren und mittleren Einkommensbereich. Diese soll ohne zusätzliche Lohnprozente über die Erwerbsersatzordnung finanziert werden. Andererseits sprach sich die CVP für eine Stabilisierung der schweizerischen Sozialleistungsquote auf dem heutigen Niveau aus. Ein allfälliger Ausbau einzelner Sozialwerke müsste folglich bei anderen kompensiert werden. Ihre Haltung gegenüber dem europäischen Einigungsprozess will die CVP 1997 endgültig klären.
In bezug auf die organisatorischen Reformen stimmte der Parteikongress dem Vorschlag zu, die CVP zur Mitgliederpartei zu machen. Eine zentral geführte Kartei soll künftig interne Urabstimmungen ermöglichen sowie die Initiativ- und Referendumskraft der Partei stärken. Weiter wurde beschlossen, den Parteivorstand zu stärken. Dieser soll künftig aus den Präsidenten der Kantonalparteien bestehen. Das Parteipräsidium wurde auf neun Personen reduziert. Knapp, mit 147 gegen 144 Stimmen, lehnten es die Delegierten aber ab, die Einführung einer Holding-Struktur mit einem C-Dach zu prüfen, welche den verschiedenen Strömungen innerhalb der Partei - unter anderem CVP-Frauen, Christlichsoziale, Junge CVP, Senioren und Wirtschaftsflügel - mehr Autonomie gegeben hätte. Eine Mehrheit der Delegierten vertrat die Meinung, dass die Erhöhung der Teilautonomie der verschiedenen Parteigruppierungen einem starken Parteiauftritt nicht förderlich wäre. Die Idee eines Wechsels des Parteinamens, die im Sommer diskutiert worden war, wurde in Biel nicht mehr vorgebracht [19].
Trotz den Bemühungen um ein klares Profil zerfiel die CVP bei der Abstimmung über das revidierte Arbeitsgesetz - der als Kraftprobe zwischen Unternehmerinteressen und Arbeitnehmerschutz eine hohe symbolische Bedeutung zukam - in zwei Lager. Während der wirtschaftsnahe Flügel das Gesetz unterstützte, stiess es beim christlichsozialen Flügel, bei den CVP-Frauen und bei vielen welschen Delegierten auf Opposition. Umstritten war dabei insbesondere auch die Sonntagsarbeit, welche als familienfeindlich taxiert wurde. Mit 120 zu 82 Stimmen beschlossen die Delegierten schliesslich die Nein-Parole und setzten sich damit der harschen Kritik der anderen bürgerlichen Parteien aus [20].
In einem Grundsatzpapier sprach sich die CVP für die Förderung der Gentechnologie aus, da diese medizinischen Fortschritt bringe und als Schlüsseltechnologie Arbeitsplätze schaffe. Dabei müssten aber die Würde des Menschen und die Integrität der Person respektiert werden. Unter anderem befürwortete die CVP die Erzeugung transgener Tiere bei der Erforschung von Krankheiten und Heilmitteln, die Freisetzung gentechnisch veränderter Organismen unter Wahrung strenger Sicherheitsvorschriften sowie die Patentierung. Verboten bleiben sollen alle Eingriffe in die menschliche Keimbahn, die das Erbgut des Menschen auf Dauer verändern. Die Genschutz-Initiative lehnte die CVP als zu starke Einengung der Forschung klar ab [21].
Eine Mehrheit der Kommission für soziale Sicherheit, Gesundheit, Familie und Sport der CVP sprach sich ausserdem für die Zulassung der Abtreibungspille RU 486 als medikamentöse Alternative zum chirurgischen Schwangerschaftsabbruch aus, wobei die Verabreichung der Pille an strengste Auflagen geknüpft werden müsse. Ihre grundsätzlich ablehnende Haltung in der Abtreibungsfrage behielt die CVP bei [22].
Bei den kantonalen Wahlen büsste die CVP überall ausser im Kanton Uri an Sitzen ein; mit insgesamt 9 Parlamentsmandaten hielten sich die Verluste aber in Grenzen. In Basel-Stadt verlor die CVP ihren einzigen Regierungssitz und ist damit erstmals seit 1950 nicht mehr in der Basler Exekutive vertreten. In Nidwalden konnte sie dafür der FDP einen Exekutivsitz abnehmen [23].
 
[18] Presse vom 22.11.96.18
[19] Presse vom 24.8. und 11.11.96. Vgl. das CVP-Positionspapier Mit neuem Elan die Zukunft gestalten, Bern 1996. Zu den unabhängigen Christlichsozialen siehe unten, andere Parteien und Gruppierungen.19
[20] Presse vom 9.11.96.20
[21] Presse vom 9.8.96. Vgl. das CVP-Positionspapier Gentechnologie in ethischer Verantwortung, Bern 1996.21
[22] BaZ und NZZ, 15.3.96.22
[23] Statistisch zwei weitere Sitze verlor die CVP in Appenzell Innerrhoden, wo die Regierung von neun auf sieben Mitglieder verkleinert wurde.23