Année politique Suisse 1996 : Parteien, Verbände und Interessengruppen / Verbände und übrige Interessenorganisationen
 
Arbeitnehmer
Erstmals seit langer Zeit konnten die Gewerkschaften wieder einmal bei einer eidgenössischen Volksabstimmung einen Sieg gegen die Arbeitgeberverbände und die bürgerlichen Parteien feiern. Mit einem Mehr von 67% lehnte das Volk eine Lockerung der Vorschriften über die Nacht- und Sonntagsarbeit im Rahmen einer Revision des Arbeitsgesetzes ab. Der SGB hatte zusammen mit dem CNG und der SP dagegen das Referendum ergriffen. Ein Erfolgserlebnis verzeichneten die Gewerkschaften auch in der Konjunkturpolitik. Die vom SGB zusammen mit der SP vorgetragene Forderung nach einem neuen Impulsprogramm (Förderung von Investitionen der öffentlichen Hand) fand - dank der CVP - im Nationalrat eine Mehrheit [12].
Trotz weiterhin schlechter Wirtschaftslage, den von Arbeitsplatzabbau begleiteten Umstrukturierungen bei Grossunternehmen und der härteren Haltung der Unternehmer in den Tarifverhandlungen kam es in der privaten Wirtschaft noch nicht zu bedeutenden Demonstrationen oder Arbeitskämpfen. Ausnahmen bildeten die allerdings mehr regionalpolitisch motivierten Proteste gegen die Schliessung der Brauerei Cardinal in Freiburg und eine grössere Demonstration in Basel für einen neuen Gesamtarbeitsvertrag in der Chemie. Besser mobilisieren liessen sich demgegenüber die gewerkschaftlich Organisierten des öffentlichen Dienstes. Ihre Proteste gegen staatliche Sparmassnahmen führten in Genf zu zwei halbtägigen Streiks und gipfelten in einer von 35 000 Personen besuchten Kundgebung auf dem Bundesplatz in Bern, der grössten Demonstration seit der Friedenskundgebung von 1982 [13].
Als Reaktion einerseits auf den Bericht der interdepartementalen Arbeitsgruppe "Finanzierungsperspektiven der Sozialversicherungen", welcher für die Zukunft erhebliche Finanzierungslücken konstatierte, und andererseits auf die Forderung der Arbeitgeber nach einem Ausbaustopp für die Sozialwerke verlangten der SGB und die SP in einem gemeinsamen Papier einen weiteren Ausbau. Konkret forderten sie sowohl die Einführung einer Mutterschaftsversicherung und des flexiblen Rentenalters ab 62 Jahren als auch die Erhöhung der Kinderzulagen und grössere staatliche Beiträge an die Krankenversicherungsprämien. Diese zusätzlichen Leistungen sollen primär über einen höheren Satz bei der Mehrwertsteuer und nur noch zu einem geringen Teil über neue Lohnprozente finanziert werden [14].
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Organisation und Mitgliederbewegung
Der gewerkschaftsinterne Konkurrenzkampf um die Vertretung der Beschäftigten des privaten Dienstleistungssektors hielt im Berichtsjahr an. Einen Tag bevor der SMUV und die GBI die formelle Gründung der neuen Gewerkschaft Unia für diesen Sektor ankündigten, gab der bereits in diesem Bereich tätige VHTL bekannt, dass er die Zusammenarbeit mit den beiden nicht dem SGB angehörenden Angestelltenverbänden SKV (Schweizerischer Kaufmännischer Verband) und SBPV (Bankpersonalverband) intensivieren werde. Der Schwerpunkt der Tätigkeit der neuen Gewerkschaft Unia soll im Detailhandel liegen, wo von den rund 300 000 Beschäftigten nur etwa 6% verbandlich organisiert sind. Die Mitgliederwerbung bei den Angestellten einiger der branchenstärksten Firmen (Migros, Coop, Usego) ist der Unia allerdings gemäss einem SGB-Schiedsspruch aus dem Vorjahr untersagt. Erste Erfolge konnte die Unia in ihrem Wettbewerb mit dem VHTL bereits erzielen. Die bisher unabhängige lokale Genfer Gewerkschaft "Actions" (knapp 6000 Mitglieder) schloss sich der Unia an, ebenso der Tessiner Regionalsekretär des VHTL mit einem Teil der rund 500 Mitglieder zählenden Kantonalsektion. Der SGB nahm an seiner Delegiertenversammlung vom 23. September in Bern die Unia in seine Reihen auf. Gleichzeitig stimmte er auch dem Beitritt der rund 375 Mitglieder zählenden Gewerkschaft der professionellen Fussballspieler (Profoot) zu [15].
Die beiden grössten Einzelgewerkschaften, der SMUV und die GBI beschlossen an ihren Delegiertenversammlungen im Herbst, die Zusammenarbeit zu verstärken und zwar nicht gerade eine Fusion, aber immerhin einen Verbund, dem auch andere Gewerkschaften beitreten können, anzustreben. Die zukünftige Rolle des heutigen Dachverbands SGB wurde in diesem Stadium des Projekts allerdings noch nicht geklärt [16]. Die im Medienbereich tätigen Gewerkschaften GDP, SSM und SJU planen, ihre insgesamt rund 18 000 Mitglieder in einer einzigen Organisation zusammenzufassen. Das Leitbild und ein Strukturmodell wurden im Juni in eine verbandsinterne Vernehmlassung gegeben [17].
Prominenten Zuwachs erhielt die Leitung des SMUV mit André Daguet, der am 9. November zum neuen Zentralsekretär gewählt wurde. Daguet war seit 1986 Generalsekretär der SP gewesen und hatte die in den letzten Jahren bei Wahlen recht erfolgreiche Politik dieser Partei wesentlich mitgeprägt [18].
Den Mitgliederschwund konnten die Gewerkschaften auch im Berichtsjahr nicht aufhalten. Die zum SGB zusammengeschlossenen Organisationen büssten 1996 rund 9000 Mitglieder ein und zählten zu Jahresende noch deren 411 000. Am stärksten war der Einbruch bei der vor allem im krisengeschüttelten Baugewerbe tätigen GBI, welche knapp 10 000 Mitglieder (-8,2%) verlor. Trotz der neuen Gewerkschaft Unia ist dem SGB der Durchbruch im Dienstleistungssektor noch nicht gelungen. Die Unia zählte zu Jahresende 7000 Mitglieder, wovon allerdings fast 6000 bereits vorher in einer nicht zum SGB gehörenden lokalen Genfer Organisation eingeschrieben waren; der VHTL seinerseits verlor rund 1000 Mitglieder. Gegenläufig zum allgemeinen Trend hat die Zahl der im SGB organisierten Frauen während der Wirtschaftskrise absolut zugenommen; ihr Anteil stieg von 1990 bis 1996 von 12,7% auf 17,5% [19]. Der Christlichnationale Gewerkschaftsbund hatte 1995 ein ausserordentliches Wachstum verzeichnen können. Zwar hatte der Mitgliederbestand bei den angeschlossenen Organisationen um 5,2% abgenommen, durch den Beitritt der bisher unabhängigen Christlich-sozialen Organisation des Kantons Tessin war seine Mitgliederzahl aber um 32% auf 134 167 angestiegen [20].
 
[12] Siehe oben, Teil I, 7a (Arbeitszeit) resp. 4a (Konjunkturpolitik).12
[13] Siehe dazu oben, Teil I, 1b (Politische Manifestationen), 1c (Verwaltung), 4a (Einleitung) und 7a (Gesamtarbeitsverträge).13
[14] TA, 14.6.96. Siehe oben, Teil I, 7c (Grundsatzfragen).14
[15] VHTL: BaZ und TW, 1.3.96; TA, 30.4.96. Unia: WoZ, 1.3.96; Presse vom 2.3.96; NZZ, 24.9.96. Vgl auch SPJ 1995, S. 355 sowie MOMA, 1996, Nr. 3, S. 31 ff. Zur Profoot siehe auch JdG, 22.8.96; Lib., 26.9.96.15
[16] Presse vom 22.10., 26.10. (GBI) und 8.-11.11.96 (SMUV).16
[17] TW, 15.6.96.17
[18] NZZ, 24.8.96; TA, 26.8.96.18
[19] NZZ und Bund, 23.4.97.19
[20] JdG, 6.7.96.20