Année politique Suisse 1996 : Allgemeine Chronik
Überblick
Im Jahr 1996 wurden keine grundsätzlichen oder besonders wichtigen politischen Entscheide gefällt. Im Vordergrund standen vielmehr Debatten über die Rolle der Schweiz während des zweiten Weltkriegs auf der einen Seite und über die Lösung von Zukunftsproblemen - beispielsweise die Finanzierung der Sozialwerke oder die Bewältigung des Transitverkehrs - auf der anderen Seite. Der Bundesrat veröffentlichte gegen Jahresende seinen Vorschlag für eine Totalrevision der Bundesverfassung. Dabei verzichtete er darauf, in bezug auf Staatsaufbau, Kompetenzzuteilung oder politische Ziele Neuerungen zu beantragen. Der Entwurf sieht einzig in den Bereichen Volksrechte und Justizorganisation materielle Änderungen vor. Sonst beschränkt er sich darauf, die seit 1874 um eine Vielzahl von Zusätzen ergänzte Verfassung in einer zeitgemässen Sprache zu formulieren sowie übersichtlich zu strukturieren. Zudem sollen wichtige Rechtsgrundsätze, welche sich aus der Bundesgerichtspraxis und der Entwicklung des Völkerrechts ergeben haben, explizit in die Verfassung aufgenommen werden. Dieses Vorhaben wurde von den Parteien und Verbänden kaum bestritten. Unter massiven Beschuss von linken und rechten Parteien geriet hingegen der Vorschlag, als Ausgleich zur Schaffung einiger neuer direktdemokratischer Instrumente die Ausübung der Volksrechte durch eine Erhöhung der Unterschriftenzahl für Initiativen und Referenden zu erschweren.
Im Verlaufe des Jahres verstärkte sich vor allem in den USA und Grossbritannien die Kritik am Verhalten der Schweiz während und nach dem 2. Weltkrieg. Hatten sich im Vorjahr amerikanische jüdische Organisationen und der Vorsitzende des Bankenausschusses des US-Senats, Alfonse D'Amato, noch weitgehend auf die Behauptung beschränkt, Schweizer Banken würden sich weigern, Vermögenswerte von Nazi-Opfern an die rechtmässigen Erben auszuliefern, rückten nun auch die Goldgeschäfte der Nationalbank mit der deutschen Reichsbank, die Lieferung von kriegswichtigen Gütern an Deutschland und die Abweisung von jüdischen Flüchtlingen ins Zentrum der Debatte. Den zum Teil sehr polemischen Attacken in den angelsächsischen Medien, von denen einige soweit gingen, die Schweiz als verkappte Verbündete der deutschen Nazis und als auch heute noch skrupellose Nation von uneinsichtigen Kriegsprofiteuren zu charakterisieren, begegnete der Bundesrat mit der Einsetzung einer speziellen Task-Force unter der Leitung des Diplomaten Thomas Borer. Dessen Aufgabe besteht nicht nur darin, der schweizerischen Position international Gehör zu verschaffen, sondern auch in der Pflege von direkten Kontakten mit den Vertretern der jüdischen Organisationen und anderen Kritikern der Schweiz. Das Parlament beauftragte eine internationale Historikerkommission mit der umfassenden Aufklärung der Rolle des schweizerischen Finanzplatzes vor, während und unmittelbar nach dem 2. Weltkrieg. Ein dringlicher Bundesbeschluss garantiert, dass dabei die Aufklärungsarbeiten rechtlichen Vorrang vor Geheimhaltungspflichten von staatlichen Behörden, Banken, Versicherungen, Anwälten, Treuhändern und anderen juristischen und natürlichen Personen haben. Die Banken, gegen welche in New York von Überlebenden des Holocaust mehrere Schadenersatzklagen in Milliardenhöhe eingereicht wurden und die sich auch Boykottdrohungen ausgesetzt sahen, reagierten mit der Einsetzung eines internationalen Komitees zur Überwachung der von ihnen eingeleiteten intensivierten Suche nach nachrichtenlosen Konten und allfälligen Anspruchsberechtigten.
Von einigen schweizerischen Parlamentariern und Journalisten wurde auch die Vermutung geäussert, dass die Kritik an der Schweiz wohl weniger heftig ausfallen würde, wenn sie aussenpolitisch nicht derart isoliert, sondern Mitglied der massgeblichen politischen internationalen Organisationen UNO und EU wäre. Ein Beitritt zu diesen Organisationen stand aber, angesichts der nach wie vor minimen Erfolgschancen einer diesbezüglichen Volksabstimmung, nicht auf der politischen Traktandenliste. Immerhin bot das Berichtsjahr der Schweiz Gelegenheit, mit der durch Bundesrat Cotti ausgeübten Präsidentschaft der OSZE ein etwas deutlicheres aussenpolitisches Profil zu zeigen. Gegen Jahresende beschloss der Bundesrat zudem, der "Partnerschaft für den Frieden" der NATO beizutreten.
Bei den vor zwei Jahren aufgenommenen sektoriellen bilateralen Verhandlungen mit der Europäischen Union wurden weitere Fortschritte erzielt. Zu einem erfolgreichen Abschluss kam es aber noch nicht, da die Positionen der EU und der Schweiz beim Dossier Strassenverkehr nach wie vor weit auseinanderlagen. Die Schweiz erklärte sich zwar bereit, die 28-Tonnen-Limite für Lastwagen schrittweise aufzuheben. Ihre Absicht, im Gegenzug einen möglichst grossen Anteil des Transitverkehrs mit Lenkungsabgaben von der Strasse auf die Schiene umzulagern, stiess jedoch auf den entschlossenen Widerstand der EU. Während die Nachbarstaaten Frankreich und Österreich die schweizerischen Pläne vor allem deshalb ablehnten, weil sie davon eine Verkehrsverlagerung auf ihre eigenen Alpentransitstrassen befürchten, sprachen sich andere (namentlich die Niederlande und Italien) grundsätzlich gegen eine Verteuerung der Transportkosten aus. Im Bereich der Ein- und Auswanderung konnte hingegen eine Kompromisslösung gefunden werden, welche tragbar scheint. Die EU hielt zwar am Prinzip des freien Personenverkehrs fest; eine differenzierte Übergangsregelung führt die Freizügigkeit jedoch nur schrittweise ein und gibt der Schweiz zudem die Möglichkeit, bei einer massiven Einwanderung aus den EU-Staaten die Notbremse zu ziehen.
Der schwache wirtschaftliche Wiederaufschwung kam - trotz gelockerter Geldpolitik und tieferem Frankenkurs - bereits wieder zum Erliegen; die Zahl der Arbeitslosen erreichte im Dezember mit fast 200 000 einen neuen Höchststand. Vor diesem düsteren Hintergrund vermochte sich im Nationalrat - dank Unterstützung der CVP - die Forderung der SP nach staatlichen Massnahmen zur Belebung der Konjunktur durchzusetzen. Die deutliche Ablehnung der Lockerung der Arbeitszeitbestimmungen in der Volksabstimmung vom 1. Dezember zeigte zudem, dass die Strategie der bürgerlichen Parteien und der Unternehmerverbände, die Wirtschaftskrise mit einer umfassenden Deregulierung zu überwinden, beim Volk auf grosse Skepsis stösst. Der um ökologische Anliegen ergänzte Agrarartikel wurde hingegen im zweiten Anlauf problemlos gutgeheissen.
Die anhaltend schlechte Wirtschaftslage macht es den öffentlichen Haushalten - namentlich demjenigen des Bundes - schwer, aus den roten Zahlen herauszukommen. Während die Einnahmen nur wenig wuchsen, stiegen insbesondere die Ausgaben für die Arbeitslosenversicherung und andere soziale Aufgaben weiter stark an. Das Defizit der Staatsrechnung erhöhte sich gegenüber dem Vorjahr und dürfte gemäss Budget für 1997 noch grösser ausfallen. Im Herbst schickte der Bundesrat ein finanzpolitisches Gesamtkonzept in die Vernehmlassung, welches bis zum Jahr 2001 zu einem ausgeglichenen Haushalt führen soll.
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