Année politique Suisse 1996 : Grundlagen der Staatsordnung
Föderativer Aufbau
Der Bundesrat kündigte eine umfassende Entflechtung der Aufgabenbereiche zwischen Bund und Kantonen an. - Volk und Stände stimmten mit grosser Mehrheit dem Kantonswechsel der Gemeinde Vellerat zu. - Die Gemeindeexektive von Moutier (BE) beschloss, von den bernischen Behörden die Einleitung eines Verfahrens zu verlangen, welches ihr den Übertritt zum Kanton Jura ermöglicht.
 
Beziehungen zwischen Bund und Kantonen
Der Bundesrat nahm in seinem im November vorgestellten Entwurf für eine neue Bundesverfassung Rücksicht auf die von der Konferenz der Kantonsregierungen (KdK) formulierte Kritik. Er beantragte, die Standesinitiative zu einer gleich wie eine Volksinitiative zu behandelnden Kantonsinitiative aufzuwerten, wenn sie von mindestens acht Kantonen eingereicht wird. Zudem enthält der Entwurf einige grundsätzliche Zusicherungen an die Kantone. So soll ihre Mitwirkung in der Aussenpolitik ausdrücklich garantiert und ihnen beim Vollzug von Bundesrecht möglichst grosse Gestaltungsfreiheit überlassen werden [1].
Der Bundesrat nahm im Mai Kenntnis vom Vorentwurf für ein Gesetz, das den Kantonen Mitwirkungsrechte in der Aussenpolitik einräumen soll. Die Vorarbeiten dazu waren im Vorjahr von einer aus Kantons- und Bundesvertretern paritätisch zusammengesetzten Gruppe geleistet worden. Er beauftragte das EDA, einen Entwurf zuhanden der Vernehmlassung auszuarbeiten. Auf die Forderung der KdK, mit ihr eine formelle Vereinbarung über die sofortige Anwendung der im Gesetz vorgesehenen Regeln abzuschliessen, trat der Bundesrat aber nicht ein. In der Praxis wurden die Regeln jedoch ab dem 1. September auch ohne Vorliegen einer solchen Vereinbarung angewendet [2].
Im Rahmen der Neukonzeption des Finanzausgleichs kündigte der Bundesrat auch eine recht umfassende Neuzuordnung der Bundes- und Kantonskompetenzen an. Von den 50 Aufgabenbereichen, in welchen heute Bund und Kantone gemeinsam tätig sind, möchte er 29 entflechten. Acht Bereiche - darunter die Agrarpolitik und der Nationalstrassenbau - sollen ganz vom Bund übernommen werden, für dreizehn Bereiche - darunter die Berufsbildung, die Wohnbauförderung und die Raumplanung - wären allein die Kantone zuständig und bei acht weiteren würden sich der Bund und die Kantone in die Verantwortung teilen. In der Vernehmlassung kritisierte die SP das Projekt am heftigsten. Zum einen, weil sie angesichts der bestehenden Koordinationsprobleme die zentralstaatlichen Kompetenzen grundsätzlich stärken und nicht abbauen möchte, zum anderen, weil sie von der Kantonalisierung Einsparungen und Leistungsabbau befürchtet [3].
Unabhängig von diesem Projekt der Regierung forderte der Tessiner Nationalrat Cavadini (fdp) mit einer Motion eine Verlagerung von Bundeskompetenzen auf die Kantone. Namentlich dort, wo schweizerische Mehrheitsentscheide den wirtschaftlichen Elan einzelner Kantone bremsen, möchte er diesen mehr Entscheidungsspielraum geben. Er nannte dabei explizit die Zulassung von ausländischen Arbeitskräften, den Grundstückerwerb durch Ausländer und die Öffnung von Strassen für 40-Tonnen-Lastwagen. Der Bundesrat erklärte sich bereit, die letzteren beiden Forderungen in Postulatsform entgegenzunehmen, die erste lehnte er ab. Da Hämmerle (sp, GR) den Vorstoss bekämpfte, wurden Diskussion und Entscheid auf später verschoben [4].
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Grenzüberschreitende Zusammenarbeit
Die vier Staaten Deutschland, Frankreich, Luxemburg und Schweiz schlossen am 23. Januar einen "Karlsruher Abkommen" genannten Staatsvertrag ab, welcher die Zusammenarbeit zwischen kommunalen und regionalen Gebietskörperschaften in den Grenzregionen erleichtern soll. Das Vertragsgebiet umfasst Luxemburg, die französischen Regionen Lothringen und Elsass, die deutschen Bundesländer Saarland, Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg sowie die Kantone Aargau, Basel-Land, Basel-Stadt, Jura und Solothurn. Als wichtigste Neuerung erhalten die Gemeinden dieser Regionen die Kompetenz, ohne vorherige Bewilligung durch übergeordnete Instanzen grenzüberschreitende Zusammenarbeitsverträge abzuschliessen und bereits bestehenden Zweckverbänden beizutreten [5].
 
Territorialfragen
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Jura
Die Kampagne für die Volksabstimmung über den Übertritt der bernischen Gemeinde Vellerat zum Kanton Jura schlug keine hohen Wellen. Zwar erschienen in allen Medien ausführliche Reportagen über das Schicksal dieser Kleingemeinde, aber Gegner ihres Übertritts zum Kanton Jura waren nicht auszumachen. Keine einzige politische Partei sprach sich für eine Ablehnung aus, lediglich die Schweizer Demokraten hatten die Stimme freigegeben (die Kantonalsektionen Aargau und Thurgau empfahlen ein Ja) [6].
Kantonswechsel Vellerat
Abstimmung vom 10. März 1996

Beteiligung: 31,0%
Ja: 1 250 728 (91,6%)
Nein: 114 105 (8,4%)

Parolen:
- Ja: FDP, SP, CVP, SVP, GP, FP, LP, EVP, LdU, EDU, PdA; SGB.
- Nein: -.
- Stimmfreigabe: SD (2*).

* Anzahl abweichender Kantonalsektionen
Am 10. März stimmten Volk und Stände mit sehr deutlicher Mehrheit dem Bundesbeschluss über den Kantonswechsel Vellerats zu. Die Zustimmungsrate fiel in allen Kantonen sehr hoch aus. Sie schwankte zwischen 88,5% im Kanton Bern und 95,3% im Kanton Genf. Im Kanton Jura betrug der Ja-Anteil 92,9%; im Kanton Bern fiel die Zustimmung im deutschsprachigen Kantonsteil mit 89,4% klarer aus als in den drei französischsprachigen Bezirken (72,8%). In diesen dürfte sich negativ ausgewirkt haben, dass die autonomistischen Organisationen die Abstimmung zum Präzedenzfall für den Kantonswechsel weiterer bernjurassischer Gemeinden deklarierten. In Vellerat selbst war das Verdikt einstimmig (42 zu 0); die Stimmberechtigten des deutschsprachigen Ederswiler (JU), welche ursprünglich gehofft hatten, im Gegenzug zum Kanton Bern zurückkehren zu dürfen, lehnten knapp ab. Am 1. Juli wurde der Kantonswechsel offiziell vollzogen [7].
Die Bundesversammlung behandelte die im Vorjahr vom Kanton Jura eingereichte Standesinitiative für ein neues Verfahren bei der Veränderung von Kantonsgebieten. Die Initiative will zwar weiterhin Volk und Stände über Kantonsneugründungen oder -zusammenlegungen entscheiden lassen. Gebietsveränderungen zwischen den Kantonen, wie im Fall Vellerat, soll die Bundesversammlung hingegen mit einem nicht einmal dem fakultativen Referendum unterstellten Beschluss genehmigen können. Das Vorgehen bei solchen Gebietsveränderungen, also z.B. die Frage, wer an den lokalen bzw. regionalen Volksabstimmungen teilnehmen darf, soll zudem nicht mehr vom direkt betroffenen Kanton geregelt werden, sondern vom nationalen Parlament. Die Staatspolitischen Kommissionen der beiden Ratskammern beantragten, der Initiative Folge zu geben. Die Tatsache, dass die eidgenössische Volksabstimmung über Vellerat doch von vielen als überflüssig empfunden worden sei, habe einen Reformbedarf aufgezeigt. Die Zustimmung zur Initiative bedeute aber nicht eine vollständige Übereinstimmung mit deren Inhalt, sondern vor allem ein Zeichen für den Bundesrat, im Rahmen der Totalrevision der Bundesverfassung die 1995 angekündigten Vorschläge zu präsentieren. Beide Räte folgten diesem Antrag ihrer Kommissionen. In dem gegen Jahresende vorgestellten Revisionsentwurf fehlte dann jedoch ein entsprechender Vorschlag, da der Bundesrat die materiellen Revisionen auf die Bereiche Volksrechte und Justiz beschränkte [8].
In Verlauf des Jahres nahm die Unzufriedenheit der autonomistischen Bewegungen (Mouvement autonomiste jurassien und Bélier) über die ihrer Meinung nach nicht zum erhofften Ziel, d.h. der raschen Wiedervereinigung, führenden Beratungen der Interjurassischen Versammlung zu. Sie propagierten, dass die Gemeinde Moutier (BE) möglichst rasch dem Beispiel von Vellerat folgen solle [9]. Der Gemeinderat (Exekutive) von Moutier übernahm diese Forderung. Ende August beschloss er, bei den bernischen Behörden die Schaffung von gesetzlichen Grundlagen für den Wechsel ihrer Gemeinde zum Kanton Jura zu verlangen. Die Berner Regierung gab bekannt, dass sie ein solches Ansinnen, das bis Jahresende noch nicht offiziell eingereicht wurde, ablehnen würde. Der Bundesrat musste in der Fragestunde des Nationalrats ebenfalls dazu Stellung nehmen. Er hielt fest, dass er keinen Anlass zum Eingreifen sehe, und dass er hoffe, dass dieses Begehren die Arbeit der Interjurassischen Versammlung und die sich normalisierenden Beziehungen zwischen den beiden Kantonen nicht beeinträchtigen werde [10].
 
Weiterführende Literatur
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Föderalismus
Basta, L. / Fleiner, Th. (Hg.), Federalism and multiethnic states: The case of Switzerland, Fribourg 1996.
Borraz, O., "Représentativité, sociabilité et pouvoir dans quatres municipalités suisses et françaises", in Revue française de science politique, 46/1996, S. 624 ff.
Dafflon, B., Analyse socio-économique de vingt-neuf fusions de communes dans le Canton de Fribourg, Fribourg 1996.
Dill, M., Die staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung der Gemeindeautonomie, Bern (Diss. jur.) 1996.
Fleiner, Th. / Schmitt, N. (Hg.), Vers une Constitution européenne: L'Europe et les expériences fédérales, Fribourg 1996.
Haldemann, Th. / Klöti, U., "Föderalistische 'Grossbaustelle Schweiz': Effizienz und Kohärenz der Reformvorhaben auf Bundesebene", in Schweizerische Zeitschrift für politische Wissenschaft, 2/1996, Nr. 2, S. 15 ff.
Horber-Papazian, K. / Soguel, N., "La répartition des tâches cantons-communes ou le rendez-vous manqué des réformes", in Schweizerische Zeitschrift für politische Wissenschaft, 2/1996, Nr. 2, S. 143 ff.
Integrationsbüro EDA/EVD (Hg.), Interreg: grenzüberschreitende Zusammenarbeit zwischen der Schweiz und der Europäischen Union, Bern 1996.
Lereche, J.-Ph., "Enclavement et désenclavement: la Suisse et la coopération régionale transfrontalière", in Revue internationale de Politique comparée, 1995, S. 485 ff.
Pfisterer, Th., "Von der Rolle der Kantone in der Aussenpolitik", in Schweizerisches Zentralblatt für Staats- und Verwaltungsrecht, 97/1996, S. 544 ff.
Ratti, R., "L'Europe des régions et la Suisse: entre utopie et réalités", in Aussenwirtschaft, 51/1996, S. 177 ff.
Wälti, S., "Institutional reform of federalism: Changing the players rather than the rules of the game", in Schweizerische Zeitschrift für politische Wissenschaft, 2/1996, Nr. 2, S. 113 ff.
Wehrli-Schindler, B., "Stadtpolitik zwischen gesellschaftlicher Entwicklung und gebauten Strukturen", in Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft, 25/1996, S. 295 ff.
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Jura
Brêchet, M., Les années de braise: Histoire du Rassemblement jurassien de 1947 à 1975, Delémont 1996.
Lüdin, R., Die Anwendung von Völkerrecht in interkantonalen Konflikten, Aachen (Diss. jur. Zürich 1986) 1996.
Voutat, B., "Objectivation sociale et mobilisations politiques. La question nationale dans le Jura suisse", in Revue française de science politique, 1996, Nr. 1, S. 30 ff.
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H.H.
 
[1] BBl, 1997, I, S. 1 ff. (v.a. S. 205 ff. und 451); TA, 22.11.96. Die KdK zeigte sich mit dem Entwurf zufrieden (NZZ, 14.12.96).1
[2] Amtl. Bull. NR, 1996, S. 1339 f.; SZ, 5.9.96. Siehe SPJ 1995, S. 46.2
[3] TA, 16.3.96; TW, 26.7.96. Vgl. auch unten, Teil I, 5 (Finanzhaushalt der Kantone).3
[4] Amtl. Bull. NR, 1996, S. 579 ff.4
[5] Presse vom 24.1.96; NZZ, 19.8.96.5
[6] Kampagne: Presse vom 1.2.-9.3.96. Parolen: BaZ, 6.3.96. Vgl. SPJ 1995, S. 48 f.6
[7] BBl, 1996, II, S. 1059; Presse vom 11.3.96; QJ und NZZ, 1.7.96 (Vollzug). Zu den autonomistischen Stimmen siehe Lib., 2.3.96; QJ, 6.3.96. Zu den Motiven bei der Volksabstimmung siehe M. Delgrande / W. Linder, Analyse der eidgenössischen Abstimmungen vom 10 März. Vox Nr. 58, Bern 1996.7
[8]  Amtl. Bull. StR, 1996, S. 291 f.; Amtl. Bull. NR, 1996, S. 1325 f. Zum Fehlen im Verfassungsentwurf siehe BBl, 1997, I, S. 206. Vgl. SPJ 1995, S. 49.8
[9] QJ, 24.6.96; JdG, 10.7.96.9
[10] QJ, 29.8., 30.8., 9.9. und 3.12.96; Bund, 29.8.96; BZ, 30.8. und 11.9.96; Amtl. Bull. NR, 1996, S. 1464 f. (BR); 24 Heures, 30.9.96 (Regierung BE). Vgl. auch BZ, 29.11.96 (Meinungsbefragung in Moutier).10
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