Année politique Suisse 1996 : Sozialpolitik / Bevölkerung und Arbeit
 
Arbeitswelt
Jeder zweite Erwerbstätige mit Berufsausbildung übt heute einen anderen als den erlernten Beruf aus. Der Berufswechsel findet in der Regel vor dem 35. Lebensjahr statt. Dies geht aus einer Studie hervor, die im Auftrag des BFS erarbeitet wurde. Laut dieser Untersuchung gaben anlässlich der Volkszählung von 1990 50,8% aller Personen mit Berufsausbildung an, den ursprünglich erlernten Berufs aufgegeben zu haben. Der Berufswechsel ist bei den Männern ausgeprägter als bei den Frauen, und bei den Schweizern grösser als bei den Ausländern (43,5%). In einem Vergleich der Ergebnisse 1990 mit jenen von 1970 zeigte sich, dass der Anteil der Berufsabgänger innert 20 Jahren um fast 7% zugenommen hat. Auffällig ist auch, dass der Wechsel schon früh stattfindet. 1990 waren 30,9% der Arbeitnehmer der Altersklasse der 15- bis 24jährigen bereits ausserhalb des erlernten Berufes tätig. Nur 1,3% der Personen, die sich beruflich neu orientierten, war älter als 34 Jahre [2].
Gemäss einer anderen Studie des BFS haben 15,7% der Erwerbspersonen in der Schweiz eine Ausbildung auf Tertiärstufe absolviert (höhere Berufsausbildung, Fachhochschule, Hochschule, Universität). In der Deutschschweiz sind es geringfügig und in der italienischen Schweiz deutlich weniger (15,2% bzw. 13,2%), in der Westschweiz dagegen spürbar mehr (18%). Nimmt man nur die Akademikeranteile, so zeigt sich ein etwas anderes Bild: Zwar liegt auch hier die französische Schweiz klar an der Spitze (8,7%), aber die Quote ist in der italienischen Schweiz etwas höher als in der Deutschschweiz (5,8% bzw. 5,2%). Andererseits weist die Deutschschweiz bei den übrigen Ausbildungsbereichen der Tertiärstufe den grössten Anteil auf. Der Anteil der Beschäftigten mit höherer Ausbildung ist bei den Männern mehr als doppelt so gross wie bei den Frauen. Allerdings sind die Unterschiede in der jüngeren Generation kleiner [3].
Zu Fragen der Berufsbildung sowie der beruflichen Weiterbildung siehe unten, Teil I, 8a (Formation professionnelle).
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Sozialpartnerschaft
Ende Juni sorgte Arbeitgeber-Präsident Guido Richterich für Aufregung. Anlässlich der Mitgliederversammlung des Zentralverbandes schweizerischer Arbeitgeber-Organisationen rief er einmal mehr zu einem "Stopp beim Sozialausbau" auf und wandte sich gegen die Aufnahme von Sozialzielen in die revidierte Bundesverfassung und gegen die Ratifizierung der Europäischen Sozialcharta. Bedeutend mehr aufhorchen als dieser fast schon stereotype Positionsbezug liess seine deutliche Absage an die Sozialpartnerschaft: Angesichts der mit den Auffassungen der Arbeitgeber unvereinbaren Forderungen der SP und der Gewerkschaften könne es - ausser allenfalls auf Betriebs- oder Branchenebene - keine gemeinsamen Lösungen geben [4].
Richterich musste sich daraufhin nicht nur von den Sozialdemokraten und den Gewerkschaften den Vorwurf gefallen lassen, seine Vorstellungen seien letztlich wirtschaftsfeindlich, da sie über kurz oder lang einen den Haupttrümpfe der Schweizer Wirtschaft, nämlich den sozialen Frieden gefährden könnten. Auch Bundesrat Villiger mahnte - ohne Richterich namentlich zu erwähnen -, es sei immer eine Stärke der Schweiz gewesen, Differenzen im Geiste der Sozialpartnerschaft zu besprechen, wodurch meistens auch konsensfähige Lösungen gefunden worden seien. In einem Aufruf stützte der Gesamtbundesrat den Finanzminister und zeigte sich besorgt über die abnehmende Gesprächsbereitschaft der verschiedenen Gruppen des Landes. Die heutigen Probleme könnten nur über einen konstruktiven Dialog gelöst werden. Letztlich seien die politisch Verantwortlichen aller Stufen sowie die Sozialpartner gemeinsam für den Ausgleich und den Zusammenhalt in der Schweiz verantwortlich [5].
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Mitwirkung der Arbeitnehmer
Mit einem Gerichtsurteil möchte die GBI erreichen, dass die Bedingungen, unter denen Arbeitnehmervertreter bei Massenentlassungen in die Entscheidfindung einzubeziehen sind, präzisiert werden. Konkret ging es um die Liquidation eines Berner Bauunternehmens, bei welcher den Gewerkschaften nur gerade 24 Stunden eingeräumt worden waren, um sich zur Entlassung von rund 400 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zu äussern. Die GBI erachtete diese Frist als Farce und reichte vor dem Appellationshof des Kantons Bern Klage ein, um so einen Musterprozess in bezug auf die Anwendung der Mitwirkungsrechte auszulösen. Das Berner Obergericht wies die Klage vollumfänglich ab. Es anerkannte, dass die Frist sehr kurz angesetzt worden sei, hielt dem Verwaltungsrat aber zugute, dass dieser aus zeitlichen Gründen gar keine andere Wahl gehabt habe [6].
 
[2] Lit. Sheldon.2
[3] Die Volkswirtschaft, 70/1997, Nr. 2, S. 49.3
[4] Presse vom 26.6.96; NZZ, 29.6.96; Schweizer Arbeitgeber, 4.7.96 (vollständiger Text der Ansprache Richterichs). Siehe dazu auch unten, Teil IIIb (Unternehmer).4
[5] Presse vom 27.6.95.5
[6] Bund, 20.3.96.6