Année politique Suisse 1996 : Sozialpolitik / Bevölkerung und Arbeit
 
Gesamtarbeitsverträge (GAV)
Ein weiterer Versuch, in der Basler Chemie einen neuen GAV auzuhandeln, scheiterte anfangs Jahr. Über das von den Arbeitgebern vorgeschlagene Drei-Stufen-Modell kam keine Einigung zustande, weil sich die Gewerkschaften nicht damit einverstanden erklären konnten, in der ersten Verhandlungsstufe nicht dabei zu sein. Die Arbeitgeber ihrerseits wichen von ihrem Modell nicht ab, auch dann nicht, als 3000 Gewerkschafter aus der ganzen Schweiz in Basel gegen die Aushöhlung der GAV demonstrierten. Nachdem die Arbeitgeber gedroht hatten, zu Einzelverträgen überzugehen, waren es schliesslich die Gewerkschaften, die nachgeben und zugestehen mussten, dass die Lohnverhandlungen künftig in einem ersten Schritt unter Ausschluss der Gewerkschaften geführt werden [36].
Die auf den 30. Juni des Berichtsjahres erfolgte vorzeitige Kündigung des GAV im Gastgewerbe hatte für die Beschäftigten zum Teil einschneidende Folgen. Die Union Helvetia, welche mit diesem Schritt den 1992 vereinbarten, jedoch vielerorts nicht gewährten jährlichen Teuerungsausgleich durchsetzen wollte, musste sich den Vorwurf gefallen lassen, dem Gastgewerbepersonal damit einen Bärendienst erwiesen zu haben. Besonders strukturschwächere Gastronomiebetriebe nutzen den vertragslosen Zustand, um ihren Angestellten neue Verträge mit deutlich schlechteren Arbeitsbedingungen aufzuzwingen, obgleich der Schweizer Hotelier-verein und der Arbeitgeberverband Gastrosuisse ihre Mitglieder ermahnt hatten, die Situation nicht über Gebühr auszunutzen.
Die "Swissfashion", der Arbeitgeberverband der Bekleidungsindustrie, kündigte auf Ende 1996 erstmals den seit 1946 bestehenden, immer wieder erneuerten GAV. Offensichtlicher Grund für die Kündigung war die Weigerung der Arbeitnehmervertreter, dem Gesuch der Tessiner Arbeitgeber um eine sofortige Vertragsverschlechterung zuzustimmen. Die Arbeitgeber hatten für alle Betriebe im Tessin den generellen Verzicht auf 50% des 13. Monatslohns, die Streichung von drei Tagen Ferien und keine Lohnanpassungen für 1997 verlangt [38].
Der neue GAV für das Kabinenpersonal brachte der Swissair 7 Mio Fr. Einsparungen und den Betroffenen sichere Löhne für drei Jahre. Der Grossteil der Einsparungen wird durch die Flexibilisierung der Einsatzbedingungen der Flight Attendants erreicht. Im Gegenzug zu diesen Zugeständnissen des Verbandes des Kabinenpersonals (Kapers) war die Swissair bereit, den neuen Vertrag trotz der angespannten Wirtschaftslage für drei Jahre von 1997 bis 1999 ohne Kündigungsmöglichkeit abzuschliessen. Damit sind das Lohnsystem und auch die Lohnhöhen für die zu 90% in der Kapers organisierten rund 3500 Flight Attendants garantiert [39].
Seit dem 1. April herrscht auch im Schreinergewerbe ein vertragsloser Zustand, da die Arbeitgeber den gewerkschaftlichen Kompromissvorschlag, die Teuerung ab 1. März mit 1,5% auszugleichen, ablehnten [40].
Zu einem erfolgreichen Ende kamen die Verhandlungen zwischen den Journalisten und den Verlegern. Der neue GAV bringt eine leichte, teuerungsorientierte Erhöhung aller Mindestansätze. Der automatische Teuerungsausgleich findet nicht mehr statt, er wird durch jährliche Verhandlungen ersetzt. Die Festsetzung der wöchentlichen Arbeitszeit ist Sache der Unternehmungen. Den Tessiner Verlegern wurde die Kompetenz für Sonderregelungen eingeräumt, doch müssen diese den Rahmenbedingungen Rechnung tragen [41]. Ebenfalls unterzeichnet wurde ein neuer GAV in der Uhrenindustrie, der bis ins Jahr 2001 den Arbeitsfrieden in dieser Branche erhalten soll. Er bringt eine Erhöhung der Ferienzeit und das Recht auf eine schrittweise Pensionierung (Reduzierung der Arbeitszeit bis zu 20% zwei Jahre vor Erreichen des Pensionsalters). Weitere Neuerungen sind die Erhöhung der Familienzulagen, ein unbezahlter Weiterbildungsurlaub mit Anrecht auf Weiterbeschäftigung sowie der explizite Schutz gegen sexuelle Belästigungen [42].
Der "Krisenartikel" in der Maschinenindustrie bleibt bis 1998 in Kraft. Dies entschied das von der Gewerkschaft SMUV angerufene Schiedsgericht [43].
 
[36] Presse vom 25.1.96; TA, 27.1. und 29.1.96; Presse vom 9.2.96. Zur Vorgeschichte siehe SPJ 1995, S. 223 f. Für die immer geringer werdende Bedeutung der GAV siehe oben (Arbeitswelt) sowie TA, 3.2. und 14.8.96; BaZ, 22.2.96 (Interview Richterich); SHZ, 25.4. und 17.10.96.36
[38] NZZ, 16.8.96.38
[39] Presse vom 7.9.96. Beim Bodenpersonal und im technischen Bereich konnte hingegen keine Übereinstimmung erzielt werden (TA, 27.11.96).39
[40] NZZ, 4.3.96.40
[41] TA, 20.4.96.41
[42] NZZ, 14.12.96.42
[43] Presse vom 5.1., 7.10. und 6.12.96. Siehe SPJ 1995, S. 224.43