Année politique Suisse 1996 : Sozialpolitik / Gesundheit, Sozialhilfe, Sport
Sozialhilfe
In der Schweiz nimmt die Armut seit Beginn der neunziger Jahre zu. Gemäss einer Studie des Bundesamtes für Statistik stieg der Anteil der Haushalte, die nach eigenen Angaben
Sozialhilfe beziehen, zwischen 1991 und 1995 von 4,7% auf 5,2%. Die Haushalte in der französischen Schweiz und im Tessin befinden sich laut Studie öfter in einer bedürftigen Situation, die ihnen Anspruch auf Unterstützungsleistungen gibt. Grosse Haushalte mit sechs und mehr Mitgliedern sind am häufigsten auf Unterstützung angewiesen. Der Anteil der
"working poors" (Leute, die arbeiten, aber damit nicht genug für ihren Lebensunterhalt verdienen) bezogen auf die gesamte Bevölkerung schwankt zwischen 3,5% und 13,6%. Das Risiko, unter einer bestimmten Einkommensschwelle zu liegen, ist für Frauen und für Personen ohne nachobligatorische Ausbildung deutlich höher als für andere Bevölkerungsgruppen. Ende Jahr schätzte die Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe (Skos) die Zahl der Sozialhilfeempfänger auf 300 000. Erstmals wurde netto mehr als eine Milliarde Franken ausgeschüttet
[59].
Das
Jahr 1996 wurde von der
UNO zum Jahr der
Bekämpfung der Armut proklamiert. Zum Auftakt dieses Themenjahres trafen die Bundesräte Dreifuss und Cotti in Bern Vertreter von Hilfswerken und Entwicklungsorganisationen. Zur Sprache kamen die ständige Verschlechterung der Rahmenbedingungen für die Länder des Südens, die zunehmende Armut im Norden sowie die sich verknappenden finanziellen Mittel zur Bewältigung der Not. Bundesrätin Dreifuss bezifferte die Zahl der Menschen, die in der wohlhabenden Schweiz in schwierigen finanziellen Verhältnissen leben, auf über 500 000, wobei in erster Linie
Frauen davon betroffen seien, weshalb man von einer eigentlichen Feminisierung der Armut reden könne. Das EDI setzte einen mit 300 000 Fr. dotierten Fonds zur Unterstützung von konkreten Projekten privater Organisationen zur Bekämpfung der Armut in der Schweiz ein
[60].
Aus Anlass des UNO-Jahres lud Bundesrätin Dreifuss anfangs Oktober rund ein Dutzend
Kantons- und Städtevertreter zu einem Treffen mit einer Delegation der Bewegung ATD Vierte Welt ein, welche sich bereits seit vielen Jahren mit dem Problem der Armut in den hochindustrialisierten Ländern befasst. Sie betonte, eine Plattform des Dialogs sei umso notwendiger, als gewisse Kreise ein Klima der Angst um die Zukunft des Sozialsystems schürten
[61].
Langzeitarbeitslosigkeit bedeutet immer häufiger den Ausschluss grösserer Bevölkerungskreise aus der Gesellschaft. Von diesen Veränderungen am stärksten betroffen sind die Schweizer Städte mit Zentrumsfunktion, da sie einen grossen Teil der sozialen Aufgaben tragen. Aus diesem Grund schlossen sich die grössten Städte 1995 zu einer losen Arbeitsgemeinschaft zusammen, der
Städteinitiative "Ja zur sozialen Sicherung", welche sich mehr Mitsprache der Städte auf Bundesebene, eine verbesserte Koordination sowie eine gerechtere Lastenverteilung einsetzt. Die Arbeitsgemeinschaft führte im Januar des Berichtsjahres eine Aussprache mit Vertretern der kantonalen Fürsorgedirektorenkonferenz durch und traf sich im Juni mit den Präsidenten der parlamentarischen Kommissionen für soziale Sicherheit und Gesundheit. Sie hiessen bei dieser Gelegenheit ein Grundlagenpapier zur Arbeitslosigkeit gut, welches die folgenden Hauptpunkte umfasst: Schaffung eines ergänzenden zweiten Arbeitsmarktes für langzeitarbeitslose Sozialhilfeabhängige; Schliessung der Finanzierungslücke zwischen AVIG und IV im Bereich der aktiven Eingliederungsmassnahmen; Förderung neuer Arbeitszeitmodelle in Richtung neuer Ansätze zur Umverteilung der Arbeit; engere Vernetzung zwischen Sozialversicherung (ALV, IV) und Sozialhilfe sowie institutionalisierte Zusammenarbeit zwischen regionalen Arbeitsvermittlungszentren (RAV) und Sozialhilfeämtern. Kerngedanke dieser Anliegen ist die Erkenntnis, dass die öffentliche Sozialhilfe ihren Integrationsauftrag nicht wahrnehmen kann, wenn ihren Klienten und Klientinnen der Zugang zum Arbeitsmarkt verschlossen bleibt
[62].
Das
Bundesgericht umschrieb in einem Grundsatzentscheid, was sich die Gemeinden im Bereich der Sozialhilfe vorschreiben lassen müssen. Da der Bereich der Fürsorge traditionell eine Aufgabe der Gemeinde ist, leitete die Gemeinde Brig daraus ab, dass sie auch die generellen Ansätze für die Berechnung des fürsorgerischen Existenzminimums selbst festlegen könne. Mit dem Argument, dass das Oberwallis eine wirtschaftlich schwache Randregion sei, verweigerte sie einer alleinstehenden Frau mit drei Kindern die sonst im Kanton Wallis übliche
Berechnung nach den Richtlinien der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe. Auf Klage der Frau hob der Kanton die entsprechende Verfügung der Gemeinde Brig auf, worauf diese ans Bundesgericht gelangte. Die Lausanner Richter befanden, es bestehe ein Interesse daran, dass im ganzen Kantonsgebiet einheitliche Ansätze für die Berechnung des Existenzminimums gälten. Sonst könnte eine Gemeinde versucht sein, durch tiefe Ansätze die Bedürftigen zur Abwanderung zu bewegen. Ausserdem gebe es gute Gründe, die höheren Ansätze der Skos zur Anwendung zu bringen, das diese den Betroffenen ermöglichen, den Anschluss an die Gesellschaft wieder zu finden
[63].
Im Berichtsjahr legte der Kanton
Graubünden eine
Armutsstudie vor. Der Bericht kam zum Schluss, dass rund 16 000 Bündner (ca.
10% der Bevölkerung) als "relativ arm" bezeichnet werden müssen. Ihnen stehen pro Monat weniger als 2000 Fr. zum Leben zur Verfügung. Auch die Exekutive der Stadt
Lausanne liess in zwei Studien die finanzielle Situation der in wirtschaftlich prekären Verhältnissen lebenden Menschen sowie die konkreten Auswirkungen der Armut untersuchen. In 5000 Haushaltungen (9% der Gesamtheit) wurden in wenigstens zwei Kernbereichen (Einkommen, Ausbildung, Einbettung in die Gesellschaft) Defizite festgestellt, womit diese Haushaltungen auch in bezug auf die Zukunftsaussichten auf sehr schwachen Beinen stehen. Weitere 4500 Haushaltungen (8%), insbesondere Familien, befanden sich in einer prekären Lage, weil sie ihren finanziellen Verpflichtungen nur zeitweise nachkommen können und rund ein Drittel von ihnen verschuldet ist
[65].
Für parlamentarische Vorstösse zur Eindämmung der Konsumkredite siehe oben, Teil I, 4a (Wettbewerb).
Nach Genf und Tessin wird auch der Kanton
Waadt für ausgesteuerte Arbeitslose ein
garantiertes Minimaleinkommen einführen. Dieses wird 150 Fr. pro Monat über den üblichen Sozialhilfeleistungen liegen und an eine Gegenleistung (Weiterbildung, Arbeiten für die Gemeinschaft) gekoppelt sein. Während die Linke dieses "revenu minimum de réinsertion" zeitlich unbefristet ausrichten wollte, setzte die bürgerliche Mehrheit im Grossen Rat eine Beschränkung auf zwei Jahre durch. Der Kanton
Wallis unterstellte nicht nur die Unterstützung der Ausgesteuerten, sondern generell seine Sozialhilfe unter den Gedanken eines Vertrages zwischen dem Individuum und der Gesellschaft ("contrat d'insertion sociale"). Die Erbringung gemeinnütziger Leistungen wird mehr als moralische denn als rechtliche Verpflichtung verstanden und hat auch die Aufgabe, die Sozialhilfeempfänger aus ihrer Isolation zu führen. Im teilrevidierten Fürsorgegesetz des Kantons
Bern soll ebenfalls die Möglichkeit geschaffen werden, die Unterstützung in besonderen Fällen an vertraglich vereinbarte Gegenleistungen zu knüpfen. Die Sozialhilfe bekäme in einem solchen Fall den Charakter eines Soziallohnes und wäre damit nicht mehr rückerstattungspflichtig
[66].
Mehr Menschen als erwartet haben in den beiden ersten Jahren seit Einführung des Opferhilfegesetzes (OHG)
Beratungen und Entschädigungen in Anspruch genommen. Dies ging aus dem ersten Zwischenbericht des Bundesamtes für Justiz hervor, der auch feststellte, dass die Kantone den Vollzug des OHG im grossen und ganzen gut erfüllt haben. So sei der Auftrag, für Beratungsstellen zu sorgen, in allen Kantonen ausgeführt worden; auch dem Persönlichkeitsschutz sowie der Besserstellung der Opfer im Strafverfahren werde in der Praxis nachgelebt. Die vom Gesetz vorgesehenen Entschädigungs- und Genugtuungsleistungen seien vor allem bei Körperverletzungen, Tötungs- und Sexualdelikten ausgerichtet worden
[67].
Der Nationalrat überwies ein Postulat einer Minderheit der Rechtskommission, welches den Bundesrat ersucht, eine Kampagne gegen die
Alltagsgewalt im sozialen Nahraum zu lancieren. Ziel der Kampagne müsste sein, in diesem tabuisierten Bereich Öffentlichkeit als Voraussetzung für eine wirksame Prävention zu schaffen
[68].
Der Schutz der Kinder vor Misshandlung und sexueller Ausbeutung wird unten, Teil I, 7d (Kinder) resp. oben, Teil I, 1b (Strafrecht) behandelt.
[59] Presse vom 26.10.96;
SoZ, 27.10.96;
JdG, 13.11.96. Bei der Skos handelt es sich um die ehemalige Schweizerische Konferenz für öffentliche Fürsorge (SKöF). Siehe
SPJ 1995, S. 236.59
[60]
CHSS, 1996, Nr. 2, S. 90 ff. (u.a. Reden der BR Dreifuss und Cotti); Presse vom 27.2.96;
Bund, 13.8.96;
WoZ, 11.10.96;
NZZ und
JdG, 13.11.96. Vgl. auch
Lit. Leitner.60
[62]
CHSS, 1996, Nr. 4, S. 162 f. Weitere Unterlagen zur Städteinitiative sind beim Fürsorgeamt der Stadt Zürich erhältlich.62
[65]
JdG und
NQ, 18.4.96.65
[66] Generell:
Cash, 19.1.96. VD: Presse vom 9.7. und 10.7.96;
NQ, 6.9. und 19.9.96. VS:
NF, 1.2.96;
NQ, 1.4.96. BE:
Bund und
BZ, 3.2. und 18.12.96. Der Grosse Rat des Kantons LU lehnte es hingegen ab, ein Recht auf Existenzminimum für Ausgesteuerte einzuführen (
24 Heures, 31.1.96). Siehe auch
SPJ 1994, S. 218 und
1995, S. 241. Vgl. auch F. Brutsch, "L'allocation universelle, un bouleversement radical", in
DP, Nr. 1240, 11.1.96, S. 4 f. sowie
Lit. Tecklenburg.66
[67]
NZZ, 11.1.96;
SGT, 4.4.96;
SHN, 4.10.96. Siehe
SPJ 1994, S. 213. Im Kanton BE stieg die Summe der Entschädigungs- und Genugtuungszahlungen innerhalb von zwei Jahren (1994-1996) von rund 210 000 Fr. auf knapp 670 000 Fr. (
Bund, 25.3.97).67
[68]
Amtl. Bull. NR, 1996, S. 919 ff. Für den Schutz der Gesellschaft vor besonders gefährlichen (Trieb-)Tätern siehe oben, Teil I, 1b (Strafrecht).68
Copyright 2014 by Année politique suisse