Année politique Suisse 1996 : Sozialpolitik / Sozialversicherungen / Grundsatzfragen
Wie versprochen legte der Bundesrat im Frühsommer den Bericht einer interdepartementalen Arbeitsgruppe (IDA FiSo) vor, welche sich während mehr als einem Jahr intensiv mit der künftigen Finanzierung der Sozialwerke auseinandergesetzt hatte. Der
IDA-Fiso-Bericht, die erste systematische Darstellung des Finanzierungsbedarfs aller Sozialversicherungszweige in Abhängigkeit vom wirtschaftlichen Wachstum und der demographischen Entwicklung, bestätigte grosso modo die bereits früher genannten Zahlen, verfeinerte sie aber noch und erweiterte die
Perspektiven bis ins Jahr 2025. Die Prognose, dass zur Sicherung der bisherigen Leistungen gemäss Referenzszenario (durchschnittliches BIP-Wachstum von 1,3% bis 2010 und von 0,5% zwischen 2010 und 2025) bis zum Jahr 2010 bzw. 2025 zusätzliche Mittel in der Grössenordnung von knapp 30 Mia Fr. pro Jahr (6,8 Mehrwertsteuerprozente oder 5,2 Lohnprozente) resp. rund 52 Mia Fr. (weitere 6,2 Mehrwertsteuerprozente oder 4,7 Lohnprozente) beschafft werden müssten, provozierte rechts und links ganz
unterschiedliche Reaktionen. Arbeitgeber und bürgerliche Parteien orteten eine gewaltige Finanzierungslücke und zogen daraus den politischen Schluss, es genüge nicht, über neue Finanzierungsmodalitäten zu reden, es gelte jetzt vielmehr, die Leistungen der Sozialversicherungen kritisch zu durchleuchten und den Finanzierungsmöglichkeiten anzupassen. Gewerkschaften und SP auf der anderen Seite kritisierten, die vorausgesagte Finanzierungslücke basiere auf zu pessimistischen Wirtschaftsprognosen, und sie verlangten, vornehmlich bei der Krankenversicherung, welche die Hälfte der zusätzlich benötigten Mittel bindet, dringend Sparmassnahmen vorzunehmen
[11].
Bundesrätin
Dreifuss wehrte sich vehement gegen alle Versuche, die Finanzlast des Sozialstaates dadurch zu erleichtern, dass man das Versicherungskonzept durch das Fürsorgeprinzip ersetzt, da damit der Mittelstand geopfert würde. Sie gab ihrer Überzeugung Ausdruck, dass erfolgreiche Schweizer Unternehmen nicht nur bei Abgaben und Gesetzesvorschriften günstige Rahmenbedingungen bräuchten, sondern auch auf eine soziale Infrastruktur angewiesen seien, welche die gesellschaftliche Stabilität garantiert. In ihren Augen sind deshalb der Einsatz für die Erhaltung des sozialen Netzes und der Kampf für die wirtschaftliche Standortqualität der Schweiz nicht voneinander zu trennen
[12].
Anfangs Herbst diskutierte der Bundesrat, gestützt auf den IDA-FiSo-Bericht, die
Weiterentwicklung der Sozialversicherungswerke. Dabei vertrat er die Überzeugung, dass sich das schweizerische Sozialversicherungssystem bewährt hat und kein radikaler Systemwechsel erforderlich ist. Dennoch nahm er die finanziellen Entwicklungsperspektiven mit Sorge zur Kenntnis. Zur Ergänzung der von der Arbeitsgruppe vorgenommenen Analyse beschloss er deshalb, eine
Folgearbeitsgruppe IDA FiSo 2 einzusetzen. Sie soll die sozialen und finanziellen Auswirkungen beleuchten, die sich aus einem Aus- oder Abbau bestimmter Sozialversicherungsleistungen ergeben würden. Um den Prüfungsrahmen abzustecken, definierte der Bundesrat einen Katalog von
Leistungen im Rahmen von AHV, IV, Kranken- und Arbeitslosenversicherung, bei denen Ausbau- oder Abbauelemente zu prüfen sind. Diese Elemente sind unter Annahme dreier finanzieller Szenarien (beschränkter Ausbau, Weiterführung des heutigen Leistungssystems, gezielter Leistungsabbau) zu beziffern. Im Rahmen seiner Grundsatzdiskussion beschäftigte sich der Bundesrat auch mit der Frage, welche Sozialversicherungsreformen bereits vor Abschluss der Arbeiten der IDA FiSo 2 an die Hand genommen werden sollten. Er kam dabei zum Schluss, dass die IV-Revision dringlich ist, und dass die EO-Revision sowie die Errichtung einer Mutterschaftsversicherung nicht weiter aufgeschoben werden sollten. Die Vorarbeiten zur 1. BVG-Revision seien weiterzuführen, um diese Reform gleichzeitig mit der 11. AHV-Revision vorlegen zu können
[13].
Für die im Rahmen des Voranschlags 1997 beschlossenen Sanierungsmassnahmen der Bundesfinanzen in den Bereichen AHV und ALV siehe weiter unten und oben, Teil I, 5 (Voranschlag 1997).
[11] Presse vom 11.6. und 14.6.96;
CHSS, 1996, Nr. 4, S. 164 ff. Siehe auch die Pressedienste von CVP (19.6.96), FDP (20.6.96), SP (21.6.96) und SVP (24.6.96) sowie des SGV (24.6.86) und der Arbeitgeber (20.6.96) Vgl. auch H. Allenspach, "Soziale Sicherheit - wie weiter?", in
Finanz und Wirtschaft, 31.7.96; H. Schuppisser, "Sozialpolitische Kurskorrektur erforderlich", in
NZZ, 24.20.96; P. Triponez, "Der Sozialstaat auf Suche nach dem Konsens", in
SGZ, 2.8.96. Die SP überwand ihre anfängliche Skepsis gegenüber einer Finanzierung über die MWSt: R. Strahm, "Weder unsozial noch wachstumsfeindlich: Finanzierung der Sozialversicherungen über Mehrwertsteuer", in
NZZ, 27.8.96. Vgl.
SPJ 1995, S. 243 f. Zur Zukunft des schweiz. Sozialstaates siehe auch
TA, 12.1., 16.1. und 23.1.96; Presse vom 15.5.96 (Tagung der Sozialpartner und der Behörden zum 3-Säulen-Bericht).1
[12]
TA, 14.8.96. Unterstützung erhielt Dreifuss auch von einem "Blaubuch" (
Lit. Stemmle), an dem 27 europäische Vertreter aus Sozialforschung und Wirtschaft mitgearbeitet haben, und das sich als Gegenmanifest zu dem im Vorjahr von Wirtschaftsführern publizierten "Weissbuch"
Mut zum Aufbruch verstand. Vgl.
NQ, 3.4.96;
SPJ 1995, S. 106 f. und 242.12
[13] Presse vom 24.9. und 19.12.96. Siehe auch die Antwort des BR auf eine Interpellation Saudan (fdp, GE):
Amtl. Bull. StR, 1996, S. 727 ff. Bei der Diskussion des IDA-FiSo-Berichts votierte die vorberatende Kommission des StR unmissverständlich für einen Marschhalt. Sie teilte zwar die Auffassung des BR, dass die Sanierung der IV dringlich sei. Alle anderen Revisionsarbeiten - mit Ausnahme punktueller Anpassungen bei den EL - sollten hingegen zurückgestellt werden, bis der Bericht IDA-FiSo 2 vorliegt (
NZZ, 7.9.96; Presse vom 23.10.96).13
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