Année politique Suisse 1996 : Sozialpolitik / Soziale Gruppen / Flüchtlinge
print
Vollzug
Bereits kurz nach der Unterzeichnung des Abkommens von Dayton machte sich Bundesrat Koller Gedanken darüber, wie und wann man die rund 21 000 Kriegsvertriebenen aus Bosnien, welche aufgrund einer vorläufigen Aufnahme oder einer Kurzaufenthaltsbewilligung in der Schweiz leben, in ihre Heimat zurückschicken könnte. Anfangs April entschied die Landesregierung, die ersten rund 8000 Flüchtlinge - Alleinstehende und kinderlose Ehepaare - sollten ab August stufenweise und vorerst auf freiwilliger Basis in ihre Heimat zurückkehren. Eine "Rückkehr auf Probe", die bei unerträglichen Verhältnissen eine Wiedereinreise in die Schweiz erlauben würde, und welche von einem überwiesenen Postulat Bäumlin (sp, BE) angeregt wurde, war dabei nicht vorgesehen, doch sollten ihnen Rückkehrhilfen gewährt und die Möglichkeit eröffnet werden, nach einer zweimonatigen Erkundungsreise in ihrer Heimat noch einmal in die Schweiz einzureisen, um die definitive Ausreise vorzubereiten. Für nicht rückkehrwillige Bosnier wurden hingegen Zwangsrepatriierungen nicht ausgeschlossen [35].
Nach Appellen des UNO-Hochkommissariats für Flüchtlinge (UNHCR), von Hilfswerken und Einzelpersonen beschloss der Bundesrat dann aber, im Berichtsjahr keine Zwangsausschaffungen vorzunehmen. Er begründete seinen neuen Entscheid mit der unerwartet schlechten Entwicklung in Bosnien, weshalb auch alle anderen Aufnahmestaaten gemäss den Empfehlungen des UNHCR von einer verfrühten Rückführung abgesehen hätten. Insbesondere sei die Menschenrechtslage nach wie vor äusserst unbefriedigend, und die Heimkehrer könnten kaum erwarten, in ihre ehemaligen Unterkünfte zurückkehren zu können, da diese inzwischen von Flüchtlingen im Land besetzt worden seien. Eine zwangsweise Rückführung in sogenannt "sichere" Gebiete, also in solche mit muslimischer Mehrheit, würde hingegen der ethnischen Säuberung noch weiter Vorschub leisten. Der Bundesrat setzte aber weiterhin auf die freiwillige Rückkehr der vorläufig aufgenommenen Bosnier. Neben der bereits zugestandenen individuellen Rückkehrhilfe beschloss er, eine zusätzliche Wiedereingliederungshilfe auszurichten und lokale Strukturförderungsprogramme zu unterstützen, welche freiwillige Rückkehrer einbeziehen. Die Ausreisefrist für Alleinstehende und kinderlose Ehepaare wurde auf Ende April 1997 verlängert. Festgehalten wurde vorderhand an der für Familien geltenden Rückkehrfrist bis Ende August 1997 [36].
Anfangs Juli verlängerte der Bundesrat auch die Ausreisefrist für abgewiesene Asylbewerber aus dem Kosovo, da es immer noch nicht gelungen war, Belgrad zur Rücknahme seiner Bürger zu bewegen. Das Rückführungsabkommen mit Sri Lanka konnte im April verlängert werden, obgleich die Regierung in Colombo lange mit ihrer Unterschrift zögerte, da sie der Schweiz vorwarf, auf ihrem Territorium nicht genügend gegen die radikale Untergrundorganisation der "Tamil Tigers" vorzugehen [37].
Mit Flüchtlingen aus der Türkei - vor allem Kurden aus dem Osten des Landes - lief im März ebenfalls ein Projekt für eine freiwillige Rückkehr unter der Aufsicht der Migrationsorganisation der UNO (IOM) an. Das Projekt stiess unter den in der Schweiz lebenden Türken jedoch auf wenig Echo. Drei Monate nach dem Start waren erst 11 Personen freiwillig in die Türkei zurück gereist. Neu an diesem Projekt ist die periodische Kontaktaufnahme mit den Rückkehrern durch die IOM. Damit soll überprüft werden, ob diese Menschen in ihrer Heimat überhaupt wieder Fuss fassen können. In Zusammenarbeit mit dem IOM baute das BFF ab Oktober flächendeckend Beratungszentren auf, da sich gezeigt habe, dass eine freiwillige Rückkehr häufig am Mangel an Informationen scheitere [38].
Zum zweiten Mal seit 1987 übte das Anti-Folter-Komitee der UNO Kritik an der Asylpolitik der Schweiz, worauf diese die geplante Ausschaffung eines Kurden sistierte. Das Gremium warf den Schweizer Behörden mangelnde Sorgfalt, eine krasse Fehleinschätzung der Lage in der Türkei und damit einen Verstoss gegen Artikel 3 der Folterkonvention vor. Insbesondere der Hinweis der Schweiz, die Türkei habe diese Konvention ebenfalls unterzeichnet, weshalb man davon ausgehen könne, dass keine Folterungen mehr vorkämen, stiess auf Unverständnis. Das Komitee wies darauf hin, dass in der Türkei die Folter nach wie vor systematisch betrieben wird, weshalb man einem mutmasslichen Folteropfer kaum entgegenhalten könne, sein Land habe diese Konvention ratifiziert. Vor allem letztere Kritik sorgte bei den Schweizer Behörden für einige Unruhe, könnte sie doch als Umkehr der bisher geltenden internationalen Gepflogenheiten gedeutet werden, wonach der Gesuchsteller seine Gefährdung durch Folter beweisen muss. Das UNO-Komitee hingegen ging davon aus, dass es am ausweisenden Staat sei zu belegen, dass eine Folterung ausgeschlossen werden kann [39].
 
[35] Amtl. Bull. NR, 1996, S. 1209 f.; NQ, 16.1. und 18.1.96; TA, 8.2. und 13.2.96; SoZ, 17.3.96; Bund, 23.3.96; NLZ, 26.3.96; Presse vom 4.4.96. Siehe SPJ 1995, S. 262.35
[36] Presse vom 4.4., 15.5. und 27.6.96; Bund, 13.5.96; TA, 14.5. und 8.6.96. Für die verschiedenen Formen der Rückkehrhilfe standen 1996 9 Mio Fr. zur Verfügung (NZZ, 22.7.96). Deutschland, die Schweiz, Österreich, Slowenien und Kroatien schlossen ein multilaterales Transitabkommen ab, um den Bosniern eine möglichst problemlose Reise in ihre Heimat zu ermöglichen (SGT, 23.5.96). Bis Ende Jahr reisten 1300 Personen freiwillig aus, 1100 weitere meldeten sich definitiv für das Rückkehrprogramm an (BaZ, 6.1.97).36
[37] Kosovo: TA, 15.5. und 19.7.96; Presse vom 6.7.96. Sri Lanka:TA und TW, 12.4.96; NQ, 19.4.96.37
[38] NQ, 19.4.96; BaZ, 19.7.96; JdG, 2.8.96.38
[39] SoZ, 7.7.96.39