Année politique Suisse 1996 : Sozialpolitik / Soziale Gruppen / Familienpolitik
Bei der Auflösung einer Ehe soll es künftig keine Schuldigen mehr geben. Diese Stossrichtung des neuen Scheidungsrechts, welches das geltende Gesetz aus dem Jahr 1907 ablösen soll, fand im Ständerat breite Zustimmung. In der Detailberatung nahm der Ständerat nur geringfügige Änderungen am Vorschlag des Bundesrates vor. Gegen den Willen der Landesregierung strich er die Verpflichtung für die Kantone, den scheidenden Ehepartnern Mediationsstellen zur Verfügung zu stellen. Die Bedeutung solcher Vermittlungsstellen im Scheidungsverfahren wurde zwar nicht bezweifelt, doch wollten die Standesvertreter den Kantonen keine neuen Pflichten aufbürden. Abweichend von Bundesrat und Kommission beantragte Forster (fdp, SG), die zweite Anhörung der Scheidungswilligen nach einer Bedenkfrist von zwei Monaten ersatzlos aufzuheben. Mit 26 zu 6 Stimmen nahm der Rat in diesem Punkt aber den Kompromissvorschlag seiner Kommission an, wonach die Ehegatten ihre Scheidungsabsicht zwei Monate nach der ersten Anhörung durch den Richter noch einmal bestätigen müssen, allerdings nur in schriftlicher Form. In der Gesamtabstimung wurde das neue Scheidungsrecht einstimmig angenommen.
Im Zuge dieser Revision wurden auch die
Bestimmungen über die Eheschliessung im Zivilgesetzbuch (Art. 90 ff. ZGB) angepasst. Dabei machten sich Brunner (sp, GE) und Schmid (cvp, AI) in einer ungewohnten Allianz dafür stark, das
Verbot einer religiösen Eheschliessung vor der Ziviltrauung abzuschaffen. Sie argumentierten, dieses Verbot sei ein Relikt aus der Zeit des Kulturkampfes. Bundesrat Koller bestritt diesen Zusammenhang nicht, wollte aber dennoch daran festhalten, da insbesondere Ausländerinnen und Ausländer oft dem Irrtum erlägen, sie seien nach einer religiösen Trauung mit allen Rechten und Pflichten verheiratet, was besonders beim Tod eines Partners schwerwiegende Folgen haben könne. Der Rat gab aber der Überwindung des Kulturkampfes den Vorrang und beschloss mit 21 zu 10 Stimmen die Aufhebung des Verbots. Gleichzeitig wurde auch das obligatorische Eheverkündigungsverfahren abgeschafft und durch ein einfacheres Vorbereitungsverfahren ersetzt
[69].
Im Anschluss an diese Beratung nahm der Ständerat diskussionslos eine Motion seiner Rechtskommission an, welche den Bundesrat beauftragt, im Hinblick auf das Inkrafttreten des neuen Rechtes eine
Broschüre über Eheschliessung und Eherecht zu verfassen. Diese soll den Verlobten bei ihrer Anmeldung im Zivilstandsamt unentgeltlich abgegeben werden
[70].
Eine im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms 35 ("Frauen in Recht und Gesellschaft") durchgeführte empirische Studie kam zum Schluss, dass die
Frauen nach einer Scheidung materiell überwiegend schlechter dastehen als ihre Ex-Gatten. Das trifft ganz besonders auf jene Frauen zu, die während der Ehe nicht oder nur geringfügig erwerbstätig waren. Die Studie stellte fest, dass die finanziellen Auswirkungen und die jeweilige Belastung der Frau oder des Mannes stark mit der Einstellung der einzelnen Gerichte zur Gleichstellungsfrage zusammenhängen
[71].
[69]
Amtl. Bull. StR, 1996, S. 741 ff. und 764 ff.; Presse vom 17.8., 26.9. und 27.9.96;
NLZ, 21.9.96;
TA, 23.9.96;
BaZ, 25.9.96. Siehe
SPJ 1995, S. 269.69
[70]
Amtl. Bull. StR, 1996, S. 777.70
[71] Th. Hütter, "Scheidung: Frauen klar benachteiligt", in
Plädoyer, 1996, Nr. 5, S. 22 ff.71
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