Année politique Suisse 1996 : Sozialpolitik / Soziale Gruppen
 
Kinder
Der Ständerat behandelte als Erstrat die Ratifikation der UNO-Konvention über die Rechte des Kindes. Dieses Abkommen konkretisiert die beiden UNO-Menschenrechtspakte für die Lebensbereiche des Kindes, wobei grundsätzlich jeder Mensch bis zum 18. Altersjahr als Kind gilt. Die schweizerische Rechtsordnung genügt in weiten Teilen den Anforderungen des Übereinkommens. Wo das nicht der Fall ist (Recht auf Familiennachzug für die Kinder ausländischer Wanderarbeitnehmer, Trennung von Jugendlichen und Erwachsenen im Strafverfahren und -vollzug, Bürgerrecht) hatte der Bundesrat bereits in seiner Botschaft punktuelle Vorbehalte beantragt [77].
Die Debatte in der kleinen Kammer hatte über weite Strecken wenig bis nichts mit dem Schutz der Kinder zu tun, wohl aber mit generellen juristischen Überlegungen. Schmid (cvp, AI) beantragte dem Rat, auf die Vorlage überhaupt nicht einzutreten. Er drückte sein Unbehagen über das zunehmende Einfliessen von direkt anwendbaren völkerrechtlichen Bestimmungen in die schweizerische Rechtsordnung aus. Zudem machten ihm einzelne Bestimmungen der Konvention Angst. Sie seien dazu angetan, die elterliche Gewalt auszuhöhlen und würden zu einer verstärkten Einmischung der Kinderschutzorganisationen und der Gerichte in innerfamiliäre Belange führen. Diesen Ausführungen hielt Beerli (fdp, BE) entgegen, die Schweiz verfüge schon heute über einen umfassenden Kinderschutz, weshalb der Beitritt zur Konvention keine Änderung des innerstaatlichen Rechts erfordere. Das Abkommen äussere sich nicht zu Erziehungsmitteln und -grundsätzen, und das Gleichgewicht zwischen Führungsanspruch der Eltern und Rechten der Kinder bleibe unangetastet. Der Nichteintretensantrag unterlag schliesslich mit 35 zu 4 Stimmen.
Wenn die Ratifizierung schon nicht abzuwenden war, so wollte Schmid, unterstützt von Reimann (svp, AG), Wicki (cvp, LU), Frick (cvp, SZ) und einigen weiteren Ratskollegen, die Konvention zumindest mit einem generellen Vorbehalt versehen. Danach sollte die Schweiz erklären, dass das Übereinkommen innerstaatlich keine direkte Anwendung findet. Aus den bereits in der Eintretensdebatte angeführten Gründen verneinte die Mehrheit des Rates die Notwendigkeit eines derartigen Vorgehens. Bundesrat Cotti und Kommissionssprecher Danioth (cvp, UR) machten auf die internationalen Implikationen eines generellen Vorbehalts aufmerksam. Insbesondere Cotti erklärte, der Aufschub der Ratifikation habe dem Ansehen der Schweiz im Ausland bereits erheblich geschadet. Auch in diesem Punkt konnte sich der Antrag Schmid - obgleich etwas weniger deutlich - mit 30 zu 9 Stimmen nicht durchsetzen.
Ganz auszuräumen vermochten die Befürworter der Vorlage die Bedenken der konservativen Kreise des Rates dennoch nicht. In der Detailberatung nahm der Ständerat auf Antrag seiner Kommission einen weiteren punktuellen Vorbehalt an, wonach die Gesetzgebung über die elterliche Sorge Vorrang gegenüber der Konvention hat. Vergeblich plädierten die beiden Freisinnigen Forster (SG) und Leumann (LU) dafür, diesen Vorbehalt nicht einzufügen. Er erwecke erst den Eindruck, dass es zwischen dem schweizerischen Verständnis der elterlichen Gewalt und der Konvention einen Widerspruch gebe, was dem internationalen Image der Schweiz nur Schaden zufügen könne. Der Rat zog es aber mit 28 zu 9 Stimmen vor, "ein innenpolitisches Zeichen zu setzten". Die bereits vom Bundesrat vorgeschlagenen Vorbehalte waren unbestritten, weshalb die Vorlage schliesslich mit 37 zu 1 Stimmen angenommen wurde. Ein letzter Versuch, die Konvention vielleicht später doch noch zu kippen, nämlich ein Minderheitsantrag Reimann / Schmid auf Unterstellung unter das fakultative Staatsvertragsreferendum unterlag mit 34 zu 7 Stimmen [78].
Trotz der Zustimmung des Rates zu den Vorbehalten des Bundesrates beantragte eine Kommissionsminderheit - vor den Neuwahlen vom Herbst 1995 war es noch eine Mehrheit gewesen -, den Bundesrat zu verpflichten, Gesetzesänderungen vorzulegen, welche erlauben, den Vorbehalt zum Familiennachzug möglichst bald zurückzuziehen. Dazu müsste insbesondere das Saisonnier-Statut geändert werden. Die beiden Genfer Ständerätinnen Brunner (sp) und Saudan (fdp) wollten mit ihrer Motion deutlich machen, dass "bestehendes Unrecht" nicht unbeschränkt aufrechterhalten werden darf. Die EU-Verhandlungen abzuwarten sei unbefriedigend, da die bilateralen Vereinbarungen über den Personenverkehr für Kinder aus Nicht-EU-Ländern nichts änderten. Bundesrat und Kommissionsmehrheit räumten zwar ein, dass Änderungen nötig seien. Trotzdem sei ein verbindlicher Auftrag im jetzigen Zeitpunkt verfehlt. Das Plenum folgte ihnen und überwies den Vorstoss mit 24 zu 5 Stimmen als Postulat [79].
Die Rechtskommission des Nationalrates befürwortete mit 15 zu 3 Stimmen die Ratifikation des Übereinkommens und empfahl dabei mit 13 zu 6 Stimmen, den vom Ständerat eingefügten Vorbehalt in Sachen elterliche Sorge wieder zu streichen. Trotz dieser klaren Ausgangslage entbrannte in der grossen Kammer erneut eine heftige Diskussion. Eine Ratsminderheit, welcher praktisch die ganze SVP-Fraktion angehörte, sowie die FP, die LP und die SD plädierte erneut für Nichteintreten auf die Vorlage. Deren Vertreter malten das Schreckgespenst einer "Kinderdiktatur" an die Wand und argumentierten, das ganze Abkommen sei von einem rot-grünen Geist durchdrungen, der zwangsläufig zu einer "Verstaatlichung der Erziehung" führe. Ihr Nichteintretensantrag unterlag aber mit 126 gegen 50 Stimmen deutlich. In der Folge gaben noch die diversen Vorbehalte zu reden. Dabei wurde ein SP-Antrag zur vorbehaltlosen Ratifizierung ebenso abgelehnt wie jener einer Kommissionsminderheit aus der SVP-Fraktion, das in der Konvention aufgeführte Recht auf Bildung ebenfalls auszunehmen, weil der Souverän dieses Recht noch vor 23 Jahren ausdrücklich verneint habe. Der vom Ständerat eingefügte Vorbehalt wurde mit der Begründung gestrichen, er stelle eher eine auslegende Erklärung dar und sei aus rechtlichen Gründen nicht notwendig. Den vom Bundesrat formulierten Vorbehalten wurde, ebenfalls auf Antrag der Kommission, zugestimmt. In der Gesamtabstimmung nahm der Nationalrat die Konvention mit 116 zu 46 Stimmen an. Der Antrag auf die Unterstellung unter das fakultative Referendum wurde mit 105 zu 54 Stimmen abgelehnt  [80].
Die kleine Kammer hielt jedoch an ihrem Vorbehalt bezüglich der elterlichen Sorge mit dem Argument fest, dass er rechtlich zwar nicht zwingend, der Interpretation aber doch dienlich sei. Schliesslich stimmte ihm der Nationalrat - wenn auch widerwillig - zu, um die Ratifizierung der Konvention nicht noch weiter zu verzögern [81].
Zu einer Motion des Nationalrates für eine völlige Trennung von Jugendlichen und Erwachsenen im Strafvollzug siehe oben, Teil I, 1b (Strafrecht).
Der Nationalrat behandelte in seiner Sommersession den Expertenbericht über das Ausmass der Kindsmisshandlungen in der Schweiz, welcher 1992 publiziert worden war. Die Autoren unterschieden zwischen vier Formen der Misshandlung: die Vernachlässigung, das heisst die mangelnde körperliche und seelische Zuwendung, die seelische Misshandlung, die sexuelle Ausbeutung und die physische Misshandlung. Während der Anteil der vernachlässigten und seelisch misshandelten Kinder nicht beziffert werden kann, so wird die Zahl der jährlich in der Schweiz sexuell ausgebeuteten Kindern auf 40 000 bis 50 000 geschätzt. In seiner im Vorjahr veröffentlichten Stellungnahme zum Bericht wollte der Bundesrat weniger auf neue Gesetze, denn auf Prävention im Bereich der Familien- und Gesellschaftspolitik setzen. Konkret nannte er die Koordination des Kinderschutzes auf eidgenössische Ebene, Unterstützung von Hilfsorganisationen, Präventionskampagnen, die Ratifizierung der UNO-Konvention über die Rechte des Kindes sowie die Mutterschaftsversicherung [82].
Dies ging einem Teil des Nationalrates allerdings nicht weit genug. Insbesondere Judith Stamm (cvp, LU), welche 1987 mit einem Postulat den Anstoss für den Expertenbericht gegeben hatte, zeigte sich enttäuscht, dass der Bundesrat kaum konkrete Massnahmen vorgeschlagen habe. Der Rat behandelte denn auch eine Reihe von Vorstössen, welche den Bundesrat in mehr oder weniger verbindlicher Form zum Handeln aufriefen. Eine Motion Hollenstein (gp, SG) für die Einführung eines Kinderschutzartikels in der Bundesverfassung wurde trotz Unterstützung der CVP mit 68 zu 59 Stimmen knapp abgelehnt, ein ähnlichlautendes Postulat der Rechtskommission hingegen einstimmig überwiesen. Angenommen - und zwar sehr deutlich mit 96 zu 26 Stimmen - wurde auch eine Kommissionsmotion, welche den Bundesrat beauftragt, den Grundsatz des Verbotes der Körperstrafe und erniedringender Behandlung von Kindern innerhalb und ausserhalb der Familie im schweizerischen Recht explizit einzuführen. Überwiesen wurden zudem weitere Postulate sowohl der Rechtskommission wie von Nationalrätin von Felten (sp, BS) über die Gewaltprävention in Familie und sozialem Nahraum resp. zum Ausbau des Sorgentelefons für Kinder [83].
In der Wintersession nahm dann der Ständerat praktisch diskussionslos vom Bericht Kenntnis. Die Motion des Nationalrates zum Verbot der Körperstrafe wurde in der kleinen Kammer nur mehr als Postulat angenommen, hingegen wurde eine Empfehlung verabschiedet, welche den Bund auffordert, in den Lehrprogrammen seiner Zuständigkeit die Vermittlung pädagogischer Grundkenntnisse einzubauen, um den jungen Menschen als künftigen Eltern zu ermöglichen, Situationen im Erziehungsalltag ohne Gewaltanwendung zu meistern [84].
Zu einer Reihe von Vorstössen zur Verhinderung resp. schärferen strafrechtlichen Ahndung von sexuellem Missbrauch von Kindern siehe oben, Teil I, 1b (Strafrecht).
Die Stadt Luzern erhielt den erstmals vergebenen Pestalozzi-Preis für kinderfreundliche Lebensräume. Der mit 20 000 Fr. dotierte Preis wird vom Dachverband Schweizer Lehrereinnen und Lehrer, der Pro Juventute, der Kinderlobby Schweiz, dem schweizerischen UNICEF-Komitee und der Pestalozzi-Stiftung getragen. Als einzige Stadt der Schweiz verfügt Luzern über ein Kinderparlament und einen Kinderbeauftragten [85].
Mit einer als Postulat überwiesenen Motion Ziegler (sp, GE) wurde der Bundesrat aufgefordert, das Abkommen Nr. 138 des Internationalen Arbeitsamtes zum Verbot der Kinderarbeit den Räten so rasch als möglich zur Genehmigung zu unterbreiten [86].
 
[77] Das UNO-Abkommen war bereits im letzten Jahr im StR traktandiert, dessen Beratung wurde dann aber kurzfristig ausgesetzt (SPJ 1995, S. 271). Anlässlich ihres ersten offiziellen Besuchs in der Schweiz appellierte auch die neue UNICEF-Exekutivdirektorin an das eidg. Parlament, die Konvention möglichst rasch zu ratifizieren (TA, 13.3.96). 187 Staaten haben das Abkommen bereits früher ratifiziert. Abseits standen zum Zeitpunkt der parlamentarischen Diskussionen nur noch die Vereinigten Arabischen Emirate, Cook Island, Oman, Somalia und die USA (Presse vom 1.6.96).77
[78] Amtl. Bull. StR, 1996, S. 342 ff. und 359 ff.78
[79] Amtl. Bull. StR, 1996, S. 367 ff. Siehe SPJ 1995, S. 271.79
[80] Amtl. Bull. NR, 1996, S. 1679 ff.; Bund, 15.8.96 (Kommission); Presse vom 2.10.96. Zur Bedeutung der Konvention vgl. G. Wettstein, "Die Schweiz und die UNO-Kinderkonvention", in NZZ, 10.9.96. An einer von der UNICEF organisierten Tagung in Bern wurde die Einsetzung eines eidgenössischen Kinderbeauftragten resp. einer -ombudsperson verlangt (Presse vom 22.10.96).80
[81] Amtl. Bull. StR, 1996, S. 900 f. und 1048 ff.; Amtl. Bull. NR, 1996, S. 2148 ff. und 2369.81
[82] SPJ 1995, S. 272.82
[83] Amtl. Bull. NR, 1996, S. 915 ff.83
[84] Amtl. Bull. StR, 1996, S. 1172 ff.84
[85] Bund, 20.11.96.85
[86] Amtl. Bull. NR, 1996, S. 1856. Siehe dazu auch eine Interpellation der SP-Fraktion (a.a.O., S. 1889 ff.).86