Année politique Suisse 1996 : Bildung, Kultur und Medien / Kultur, Sprache, Kirchen / Sprachen
Eine von den Bundesämtern für Statistik und Kultur gemeinsam in Auftrag gegebene
Studie zeigte, dass - allen Unkenrufen zum Trotz - die rätoromanische Sprache noch immer lebendig ist, dass sie nach wie vor an die jüngeren Generationen tradiert wird und dass sie noch erhalten werden kann, wenn die notwendigen Bedingungen geschaffen werden. Zwischen 1880 und 1990 ging zwar der Anteil jener Personen, die Rätoromanisch als Muttersprache bezeichnen, von 1,36% auf 0,8% der Gesamtbevölkerung zurück, doch spricht in den rätoromanischen Stammlanden nach wie vor die Hälfte der dort lebenden Bevölkerung zu Hause rätoromanisch. In den Gemeinden, wo das Rätoromanische teilweise Unterrichtssprache und in Behördensachen offizielle Sprache ist, wird das Rätoromanisch noch weitgehend an die Kinder weitergegeben, weshalb der Fortbestand in der heranwachsenden Generation als gesichert betrachtet werden kann
[35].
Die Annahme des Sprachenartikels in der Bundesverfassung, mit welchem das Rätoromanische zur Teilamtssprache und damit zur Umgangssprache zwischen dem Bund und den Bürgerinnen und Bürgern rätoromanischer Zunge erhoben wurde, heizte die Diskussionen um die Standardsprache
Rumantsch Grischun erneut an. Die Ankündigung, dass der Bund seinen Beamten Kurse in Rumantsch Grischun anbieten werde, erhitzte die Gemüter zusätzlich
[36]. Aber auch die Lia Rumantscha drängte nun auf eine rasche Anerkennung des Rumantsch Grischun als Einheitssprache, wurde aber von der Bündner Regierung vorerst zur Zurückhaltung aufgefordert, da die Abstimmung über den Sprachenartikel gezeigt habe, dass diese Frage nach wie vor sehr emotional gehandhabt werde
[37].
Trotz der erwähnten Animosität gegenüber der Standardsprache beschloss die Bündner Kantonsregierung im Sommer, diese zur
dritten Amtssprache neben Deutsch und Italienisch zu ernennen; bisher hatten die beiden romanischen Hauptidiome Sursilvan und Ladin den Status von Amtssprachen. Der Kanton wird sich des Rumantsch grischun aber nur bedienen, wenn er sich an die gesamte romanische Bevölkerung wendet. Sind dagegen Sprachregionen, Gemeinden oder einzelne Bürgerinnen und Bürger die Adressaten von amtlichen Mitteilungen, so können diese auch in deren Dialekt verfasst werden. Nach Ansicht der Kantonsregierung wird die Stellung der Idiome als tragende Basis der romanischen Sprache durch die neue Amtssprachenregelung nicht beeinträchtigt. Rumantsch grischun stelle nicht eine Alternative zu den Regionalsprachen, sondern lediglich eine Ergänzung dar, und zwar ausschliesslich in der schriftlichen Form
[38].
Während der Abstimmungskampagne zum Sprachenartikel sicherte Bundesrätin Dreifuss die
Hilfe des Bundes beim Aufbau der geplanten "Agentura da novitads rumantscha" zu. Gesetzliche Grundlage für das Engagement des Bundes ist das im Vorjahr zusammen mit dem Sprachenartikel revidierte Gesetz über Beiträge an die Kantone Graubünden und Tessin zur Erhaltung ihrer Sprache und Kultur
[39]. Für den Aufbau der romanischen Nachrichtenagentur bzw. einer Tageszeitung in "Rumantsch grischun" siehe unten, Teil I, 8c (Presse).
Die Bündner Kantonsregierung schlug dem Grossen Rat ein neues
Kulturförderungsgesetz vor, welches auch die Sprachenförderung explizit aufnimmt. Für die Beiträge an die Lia Rumantscha und die Pro Grigioni Italiani fehlte bisher eine eindeutige gesetzliche Grundlage. Diese ist umso notwendiger, als das im Vorjahr angenommene eidgenössische Finanzhilfegesetz die Bundesleistungen von kantonalen Eigenleistungen abhängig macht. Für die Sprachenförderung sind aus den ordentlichen Mitteln 0,8 Mio Fr. vorgesehen; den wesentlichen Beitrag leistet hier mit 4,75 Mio Fr. der Bund
[40].
In Graubünden soll gemäss einem Vorschlag der Kantonsregierung auch in den deutschsprachigen
Primarschulen der Unterricht in einer im Kanton gesprochenen Zweitsprache (Italienisch oder Romanisch) als Obligatorium eingeführt werden. Bisher war eine Fremdsprache (Deutsch) im dreisprachigen Kanton einzig für Unterschüler romanischer oder italienischer Muttersprache Pflichtfach. Der Bündner Grosse Rat stimmte diesem Konzept zu, so dass es im Schuljahr 1999/2000 erstmals zur Anwendung gelangen wird
[41].
[36]
SZ, 6.1.96;
BüZ, 11.1.96.36
[37]
BüZ, 7.2. und 12.3.96.37
[38] Presse vom 6.7.96. Für die Zukunft der romanischen Sprache mit oder ohne Rumantsch grischun siehe
BüZ, 31.1., 5.2., 16.2., 22.2., 23.2. und 27.2.96. Vgl.
SPJ 1995, S. 297. Bundesbern begrüsste den Entscheid der Bündner Regierung, da damit die Ausarbeitung eines Amtssprachengesetzes erleichtert werde (
BüZ, 9.7.96).38
[39] Presse vom 12.2.96. Siehe
SPJ 1995, S. 296.39
[41]
BüZ, 6.6. und 19.9.96;
CdT, 8.10.96.41
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