Année politique Suisse 1996 : Bildung, Kultur und Medien / Kultur, Sprache, Kirchen
Kirchen
Im Rahmen der Totalrevision der Bundesverfassung entbrannte die Kontroverse um den sogenannten
Bistumsartikel (Art. 50 Abs. 4 BV) erneut, welcher die Errichtung von katholischen Bistümern auf schweizerischem Gebiet der Genehmigung des Bundes unterstellt. Der Entwurf des EJPD sah vor, diese explizite Schranke der Glaubens- und Gewissensfreiheit im Interesse des konfessionellen Friedens weiterhin aufrecht zu erhalten. Gegen diese als Diskriminierung empfundene Bestimmung wehrten sich, angeführt von der Schweizerischen Bischofskonferenz, viele Katholiken, aber auch namhafte Staatsrechtler sowie der Ständerat, der im Vorjahr knapp einer parlamentarischen Initiative auf Abschaffung von Art. 50 Abs. 4 BV zugestimmt hatte. Die Forderung nach völliger Organisationsfreiheit rief aber auch wieder Opposition auf den Plan, nicht nur in protestantischen Kreisen, sondern auch bei katholischen Organisationen (so etwa bei der Römisch-Katholischen Zentralkonferenz), die befürchteten, mit der Streichung des Bistumsartikels in der Bundesverfassung gebe man ein Stück demokratischer Mitsprachemöglichkeit bei der Besetzung der Bistümer aus der Hand, weil damit die implizierte Garantie der religionsrechtlichen Kompetenz der Kantone und indirekt auch der Konkordate einzelner Kantone mit dem Apostolischen Stuhl dahinfallen würden
[42].
Bis im März des Berichtsjahres verhandelte das BIGA mit der Schweizerischen ökumenischen
Arbeitsgruppe Zivildienst über ein Schulungskonzept für die Mitglieder der neu zu ernennenden Zulassungskommission Zivildienst. Das Schulungsteam war bereits zusammengestellt und das Konzept bereinigt, als das BIGA unerwartet beschloss, die Kommission verwaltungsintern auf ihre Aufgabe vorzubereiten. Das BIGA begründete seinen Rückzieher damit, dass die Landeskirchen, welche sich seit Jahren für einen Zivildienst engagiert hatten, in der Bevölkerung als zu wenig ideologisch neutral angesehen würden und deshalb in diesem heiklen Bereich nicht mit der Schulung betraut werden könnten. Die Kirchen werteten die Meinungsänderung des BIGA als Misstrauensvotum gegenüber ihrer Kompetenz im sozialethischen sowie erwachsenenbildnerischen Bereich und letztlich als generelle Absage an die Zusammenarbeit von Kirche und Staat
[43].
Ins Kreuzfeuer der Kritik gerieten die Landeskirchen auch mit ihrem offenen Einsatz gegen das revidierte Arbeitsgesetz. Sie lehnten sowohl die Ausdehnung der Sonntagsarbeit als auch die erweiterten Ladenöffnungszeiten ab.
In ungewöhnlich undiplomatischer Weise distanzierten sich wichtige katholische Würdenträger von der Person von Bischof Wolfgang Haas und den Entwicklungen im
Bistum Chur. Den Reigen der kritischen Äusserungen eröffnete der päpstliche Nuntius, Erzbischof Karl Rauber. In einer Sendung des Tessiner Fernsehens bezeichnete er den "Fall Haas" als nach wie vor aktuell, weshalb baldmöglichst eine Lösung gefunden werden müsse. Weihbischof Paul Vollmar griff zu noch deutlicheren Worten. In einem Interview bezeichnete er Haas als eine "Fehlbesetzung", weshalb ein Neubeginn im Bistum Chur nur ohne ihn denkbar sei. Sowohl der Priesterrat des Bistums Chur wie auch die 1994 gegründete Tagsatzung der Bündner Katholiken stützten diese Einschätzung und drängten auf die baldige Ablösung von Haas. Zur allgemeinen Überraschung bezog schliesslich auch die Schweizer Bischofskonferenz einstimmig Position gegen Haas und liess verlauten, sie teile die Einschätzung von Weihbischof Vollmar voll und ganz. Der Umstand, dass damit alle wichtigen Gremien auf Distanz zu ihm gegangen waren, beeindruckte Bischof Haas keineswegs. Er liess erklären, er sehe in der Stellungnahme seiner bischöflichen Kollegen keinen Grund zum Rücktritt
[45].
Mit einer Feier im Nationalratssaal konnte die
Christlich-Jüdische Arbeitsgemeinschaft der Schweiz ihres 50jährigen Bestehens gedenken. Mit dem Ziel, Antisemitismus in jeglicher Form entgegen zu treten, war die Arbeitsgemeinschaft 1946 als Reaktion auf den Holocaust von betroffenen Juden und Christen gegründet worden. Seither nahm sie durch aufklärende Arbeit und gegenseitiges respektvolles Kennenlernen ihre Aufgabe wahr, kulturelle und religiöse Vorurteile abzubauen
[46].
Zur Debatte über die Haltung der Schweiz gegenüber den Juden vor, während und nach dem 2. Weltkrieg siehe oben, Teil I, 1a (Aufarbeitung der Kriegsjahre) sowie 4b (Banken).
Den beiden
jüdischen Kultusgemeinden im Kanton Bern (Bern und Biel) wurde vom Grossen Rat der öffentlich-rechtliche Status zuerkannt, womit sie den drei bernischen Landeskirchen gleichgestellt werden. Mit diesem Parlamentsbeschluss ist Bern nach Basel-Stadt und Freiburg der dritte Schweizer Kanton, der Christentum und Judentum juristisch gleichstellt
[47].
Gegenüber dem
Islam und seinen politischen Ausprägungen bestehen nach wie vor viele Vorurteile. Deshalb organisierte die Zentralstelle für Gesamtverteidigung zusammen mit anderen Organisationen ein viel beachtetes Seminar, um falsche Vorstellungen und Unsicherheiten zu relativieren. Die Experten waren sich darin einig, dass der Islam die westlichen Kulturen nicht bedroht, weshalb sie mehr Offenheit zum Dialog mit der muslimischen Welt forderten
[48].
[42]
SGT, 3.1.96;
NLZ, 5.1. und 13.1.96; Presse vom 8.3.96;
NZZ, 9.3.96;
Bund, 18.5.96. Siehe
SPJ 1995, S. 298. Zur Aufhebung des ebenfalls aus dem Kulturkampf stammenden Verbots der kirchlichen Eheschliessung vor der Ziviltrauung siehe oben, Teil I, 7d (Familienpolitik).42
[45] Presse vom 6.4., 29.10., 6.11., 28.11., 6.12. und 7.12.96;
BüZ, 9.4., 23.4., 25.5., 30.10. und 7.11.96;
NLZ, 16.4.96;
SoZ, 21.4.96. Zur Tagsatzung siehe
SPJ 1994, S. 271. Auch der Nuntius und Weihbischof Vollmar stellten sich erstmals klar hinter die Tagsatzung, die Vollmar als einen Selbstvollzug der Kirche und ein gerechtfertigtes Unternehmen bezeichnete (
BüZ, 6.5., 11.11. und 13.11.96;
TA, 12.11.96). Nachdem sich Haas bereit erklärt hatte, sich aus der Schulleitung zurückzuziehen, beschloss die Bündner Regierung, die Theologische Hochschule Chur entgegen der letztjährigen Drohung weiter anzuerkennen (
BüZ, 3.7.96).45
[46] Presse vom 6.9.96.46
[47]
Bund, 22.3.96;
BZ, 11.9.96. Vgl. auch
SPJ 1990, S. 270. Zu ähnlichen Bestrebungen im Kanton ZH siehe
NZZ, 22.1., 20.4. und 6.6.96.47
[48]
Bund, 21.10.96. Zu der für 1997 geplanten Einrichtung eines eigenen muslimischen Friedhofs im Zürich siehe
TA, 5.1., 1.4., 4.4., 20.4., 4.6., 6.6., 7.6., 28.6., 22.8., 5.9. und 20.12.96.48
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