Année politique Suisse 1997 : Parteien, Verbände und Interessengruppen / Parteien
 
Sozialdemokratische Partei (SP)
Anfang Februar gab Peter Bodenmann überraschend seinen Rücktritt als Parteipräsident bekannt, um für den Walliser Regierungsrat zu kandidieren. In einer selbstkritischen Analyse seiner siebenjährigen Amtszeit bilanzierte Bodenmann, dass die SP zwar zur stärksten Partei geworden sei. Es sei ihr aber nicht gelungen, die Menschen am Rande der Gesellschaft, die Arbeiter und Angestellten mit tiefen Einkommen politisch zu bewegen. Weiter habe sie es verpasst, lebendige Strukturen zu schaffen, in denen die kommende Generation ihre politischen Erfahrungen "im notwendigen Widerspruch zu den herrschenden Zuständen" formen könne; die alt-68er hätten sich von der Parteipolitik weitgehend verabschiedet. Das traditionelle Bündnis zwischen der Linken und den Kulturschaffenden müsse wieder enger geknüpft werden, und das Land benötige dringend ein attraktives linkes Massenblatt [4].
Nach der Rücktrittsankündigung Bodenmanns begann sich das Kandidatenkarussell rasch zu drehen. Insbesondere die SP-Frauen meldeten ihren Anspruch auf das Parteiamt an, wobei sie ein Kopräsidium forderten. Gleichzeitig führten Parteiexponenten - weitgehend via Medien - eine teils gehässige Diskussion über den Zustand und die künftige Ausrichtung der Partei. Nachdem sich chancenreiche Kandidaten wie Ständerätin Christiane Brunner (GE) oder Nationalrat Franco Cavalli (TI) zurückgezogen hatten, verblieben am Schluss nur der Nationalrat und Biobauer Andrea Hämmerle (GR) und die - erst im letzten Augenblick kandidierende - Zürcher Stadträtin Ursula Koch. Diese machte Ende Juni an einem Parteitag in Thun als Frau, Städterin und einen neuen Stil versprechende Politikerin klar das Rennen gegen den "Bergler" und Kontinuität garantierenden Hämmerle, obwohl sie keine politische Erfahrung auf nationaler Ebene mitbrachte. Koch kündigte nach ihrer Wahl Grundwertediskussionen in der SP an, versprach der Parteibasis mehr Macht und forderte die Wiederherstellung des Primats der Politik vor der Wirtschaft [5].
Mit der Wahl Kochs begab sich die SP fest in Frauenhand; an ihrer Spitze standen neben Koch die Fraktionspräsidentin Ursula Hafner (SH) und die Parteisekretärin Barbara Haering Binder (ZH). Nachdem Haering Binder aber schon bei der Wahl Kochs hatte durchblicken lassen, dass sie Hämmerle bevorzugt hätte, kam es Anfang Dezember zum öffentlichen Zerwürfnis. Haering Binder gab ihren Rücktritt auf März 1998 bekannt. Der Eklat machte deutlich, dass die SP-Fraktion auch ein halbes Jahr nach der Wahl Kochs noch in ein "Koch"- und ein "Bodenmann/Hämmerle"-Lager gespalten war. Die SP-Frauen Schweiz stellten sich in einer Pressemitteilung hinter ihre Präsidentin [6].
Neben der Wahl Kochs entschied die SP am Thuner Parteitag, eine Volksinitiative für eine soziale Krankenversicherung zu lancieren. Den Text mit dem Titel "Gesundheit muss bezahlbar bleiben" verabschiedete sie Ende Oktober zusammen mit dem SGB definitiv. Von der ursprünglichen Idee, die Kopfprämien vollständig durch einen um 8% höheren Mehrwertsteuersatz zu ersetzen, wich sie ab und entschied stattdessen, die Prämien sozial abzustufen, die Kinderprämien ganz abzuschaffen und die Finanzierungslücke durch einen um rund 3,5% erhöhten Mehrwertsteuersatz zu decken. Versicherte mit einem steuerbaren Einkommen von unter 20 000 Fr. sollen keine Prämien mehr bezahlen. Um die Gesundheitskosten zu reduzieren, soll der Bundesrat jährliche Globalbudgets erstellen müssen und die Leistungen der obligatorischen Krankenversicherung limitieren. Weiter soll er die Spitzenmedizin und die Zulassung der Ärzte beschränken [7].
Im Juni wurde die von der SP lancierte Volksinitiative "Für ein Verbot der Kriegsmaterialausfuhr" vom Volk mit 77% Nein-Stimmen klar verworfen. Auch der traditionelle SP-Partner, der SGB, hatte die Volksinitiative aus Angst vor dem Verlust von Arbeitsplätzen nicht unterstützt. Beim Referendum zum dringlichen Bundesbeschluss über die Arbeitslosenversicherung, das die SP erst spät mitunterstützte, erzielte sie gegenüber den bürgerlichen Parteien jedoch einen Abstimmungserfolg. Um das Thema "Gen-Schutz-Initiative" - diese wird im Sommer 1998 zur Abstimmung kommen - frühzeitig zu besetzen, fasste der SP-Vorstand bereits im August die Ja-Parole. Die Gesamtpartei ist in dieser Frage aber gespalten. Im Sommer kam ausserdem die von der SP und Friedensorganisationen lancierte Volksinitiative "Sparen beim Militär und der Gesamtverteidigung - für mehr Frieden und zukunftsgerichtete Arbeitsplätze" zustande, die eine Halbierung des Militärbudgets fordert. Mit Unterstützung der Grünen brachte die SP weiter die Volksinitiative für die Einführung des konstruktiven Referendums zustande [8].
Angesichts von Unternehmensfusionen, die einerseits explodierende Börsengewinne, andererseits den Abbau von Arbeitsplätzen brachten, aber auch aufgrund von publik gewordenen Steuertricks einiger Reicher forderte die SP im Dezember eine Sondersession für mehr Steuergerechtigkeit. Weiter verlangte sie die Einführung einer "ergiebigen und griffigen" Kapitalgewinnsteuer per Dringlichkeitsrecht, eine Depotabgabe von 0,1% auf allen verwalteten Vermögen, eine nationale Erbschaftssteuer und eine "echte" Steuerharmonisierung [9].
Bei den kantonalen Wahlen konnte die SP in allen wählenden Kantonen Sitzgewinne verzeichnen, insgesamt 22, und war damit im Berichtsjahr klare Wahlsiegerin. Im Wallis konnte sie mit Peter Bodenmann ausserdem erstmals in die Regierung einziehen. Im Kanton Genf ist sie nach vierjährigem Unterbruch mit zwei Vertretern erneut in der Regierung vertreten.
 
[4] Presse vom 3.2. (Rücktritt) und 4.2.97 (Analyse). Vgl. auch ein Interview mit A. Gross zu Bodenmann und dem Zustand der SP, in Bund, 8.2.97.4
[5] Presse vom 4.2.97; TA, 22.3.97; Presse vom 21.5.97 (Kandidatensuche); TA, 12.2.97 (SP-Schlagabtausch); Presse vom 30.6.97 (Wahl Kochs). Die SP-Frauen setzten ihre Forderung nach einem Co-Präsidium auch selbst um: Als Nachfolgerinnen von Margrith von Felten (BS) wählten sie Jacqueline Fehr (ZH) und Véronique Pürro (GE) gemeinsam ins Präsidentinnenamt der SP-Frauen (Presse vom 3.3.97).5
[6] Presse vom 3.12.97; Ww, 4.12.97; NZZ, 8.12.97; SoZ, 14.12.97.6
[7] TA, 30.6.97; Presse vom 25.10.97. Vgl. SPJ 1996, S. 359.7
[8] Presse vom 9.6. (Kriegsmaterial), 25.8. (Genschutz) und 29.9.97 (ALV); NZZ, 17.6.97 (Militär, Volksvorschlag).8
[9] TA, 18.12.97. Im Januar 1998 hielt das Parlament eine halbtägige Sitzung zum Thema Steuern ab, zur geforderten Sondersession kam es nicht. Zu den steuerpolitischen Vorstellungen anderer Parteien siehe oben, Teil I, 5 (Direkte Steuern).9