Année politique Suisse 1997 : Grundlagen der Staatsordnung / Politische Grundfragen und Nationalbewusstsein / Grundsatzfragen
print
Die Schweiz im 2. Weltkrieg
Die Auseinandersetzung über das Verhalten der schweizerischen Behörden, der Banken und der Industrie vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg blieb weiterhin eines der Hauptthemen der Politik. Der innenpolitische Konflikt wurde, insbesondere in der ersten Jahreshälfte, oft sehr polemisch ausgetragen und orientierte sich weitgehend am üblichen Links/Rechts-Schema. Weniger üblich, und deshalb auch schwerer zu meistern, waren die Herausforderungen auf der internationalen Szene. Die namentlich in den USA durch jüdische Organisationen, aber auch staatliche Behörden vorgebrachten und weltweit durch die Medien prominent verbreiteten Anschuldigungen gegen die Schweiz und das geringe Echo, das die von der Schweiz ergriffenen Massnahmen zur Aufklärung ihrer Geschichte und zur Wiedergutmachung fanden, liessen in weiten Kreisen den Eindruck der Hilflosigkeit entstehen.
Der Umstand, dass lange Zeit sowohl von den Banken als auch von den Bundesbehörden die Tragweite der aufgeworfenen Fragen unterschätzt worden war, führte auch zur Forderung nach Instrumenten zur Früherkennung von Krisen und nach einem effektiveren Krisenmanagement, als es die siebenköpfige Kollegialregierung zu leisten imstande ist. Nachdem die Geschäftsprüfungskommissionen beider Räte die Lage analysiert hatten, beschlossen Bundesrat und Parlament erste diesbezügliche Massnahmen (siehe dazu unten, Teil I, 1c, Regierung) [1].
Zu Jahresbeginn gab vor allem die Ende 1996 vom abtretenden Bundespräsidenten Delamuraz in einem Zeitungsinterview gemachte Aussage, die von den jüdischen Organisationen geforderten Globalzahlungen kämen einer Lösegelderpressung gleich, zu reden. Jüdische Organisationen aus den USA drohten mit Boykottmassnahmen, falls sich der Bundesrat nicht innert Monatsfrist von diesen Worten distanziere, die als an Antisemitismus grenzend und diesen fördernd bezeichnet wurden. Der Bundesrat ging auf diese Begehren nicht ein und rief alle beteiligten Stellen zur Fortsetzung des Dialogs auf. Die SP und die Grünen kritisierten Delamuraz ebenfalls, weil seine Aussagen geeignet seien, antisemitische Stimmungen hervorzurufen, und verlangten vom Gesamtbundesrat, sich von Delamuraz' Worten zu distanzieren. Später verabschiedete der SP-Vorstand gar eine Resolution, worin er Delamuraz zum Rücktritt aufforderte; die SP-Fraktion entschied jedoch, sich dieser Forderung nicht anzuschliessen. Bundesrat Delamuraz selbst nahm seine Worte nicht zurück, sondern äusserte zuerst sein Bedauern darüber, dass seine Äusserungen falsch verstanden worden seien; später ergänzte er noch, dass er seine kritisierte Aussage aufgrund von unpräzisen Informationen gemacht habe [2]. Als Reaktion auf die Äusserungen von Delamuraz lancierten Personen aus der politischen Linken und der Kultur ein Manifest, worin sie den Bundesrat unter anderem aufforderten, aktiv gegen jegliche antisemitische Tendenzen zu kämpfen [3].
Der Konflikt zeitigte zu Jahresbeginn jedoch auch personelle Konsequenzen. Die SonntagsZeitung veröffentlichte einige Passagen aus einem vertraulichen Situationsbericht des schweizerischen Botschafters in den USA, Carlo Jagmetti, und warf ihm in einem Kommentar absolutes Unverständnis für die berechtigte Kritik an der Schweiz vor. In seinem nicht für die Öffentlichkeit bestimmten Bericht hatte Jagmetti die zuständigen Bundesstellen aufgefordert, diese Auseinandersetzung ernst zu nehmen, und davor gewarnt, die Gegenspieler, namentlich die jüdischen Organisationen in den USA, zu unterschätzen. In den in der SonntagsZeitung abgedruckten Passagen rief er die Behörden in martialischer Sprache dazu auf, sich auf einen Krieg vorzubereiten, der sowohl im Landesinneren als auch im Ausland (d.h. vor allem in den USA) geführt werden müsse. Von einem Teil der Medien und von der politischen Linken wurde er aufgrund dieser Auszüge als ungeeignet für die Vertretung der schweizerischen Interessen kritisiert. Diese Vorwürfe und das Zögern des Bundesrates, sich eindeutig hinter ihn zu stellen, veranlassten Jagmetti, sein Rücktrittsschreiben einzureichen [4].
 
[1] Vgl. auch Amtl. Bull. NR, 1997, S. 2921.1
[2] Zu Delamuraz' Aussagen siehe SPJ 1996, S. 123; TA und 24 Heures, 3.1.97; Presse vom 6.-8.1. und 16.1.97; Bund, 11.1.97 (SP); TA, 11.1.97; Presse vom 27.1.97 (SP-Vorstand); NZZ, 3.2.97 (SP-Fraktion).2
[3] BaZ, 30.1.97; TA, 31.1.97. Vgl. auch den Aufsatz des Schriftstellers Adolf Muschg in TA, 24.1.97 ("00:00 Wenn Auschwitz in der Schweiz liegt") sowie WoZ, 14.2.97.3
[4] SoZ, 26.1.97; Presse vom 27.-29.1.97. Von einzelnen Vertretern amerikanischer jüdischer Organisationen wurde in Interviews ein ähnlich kriegerisches Vokabular verwendet (NZZ, 29.1.97). Siehe auch Amtl. Bull. StR, 1997, S. 722 ff. Die Bundesanwaltschaft eröffnete wegen dieser Indiskretionen eine Strafuntersuchung, die allerdings im Berichtsjahr zu keinen Ergebnissen führte.4