Année politique Suisse 1997 : Grundlagen der Staatsordnung / Politische Grundfragen und Nationalbewusstsein / Grundsatzfragen
Neben dem Umgang der Banken mit den ihnen von Holocaustopfern anvertrauten Geldern und den Goldgeschäften der Nationalbank gehörte die
Flüchtlingspolitik zu den wichtigsten Streitpunkten in der aktuellen Debatte. Der Bundesrat empfahl im Januar der Historikerkommission Bergier, die beiden letztgenannten Bereiche prioritär zu behandeln. Im Rahmen einer breiten Diskussion zur Aufarbeitung der Geschichte im Nationalrat verlangte de Dardel (sp, GE) mit einer Motion, dass Listen mit den Namen aller an der Landesgrenze zurückgewiesenen Personen, welche später dem Holocaust zum Opfer fielen, erstellt und publiziert werden. Nachdem der Bundesrat zugesichert hatte, dass man daran sei, derartige Datenbanken zu erstellen und diese auch frei zugänglich gemacht würden, überwies der Rat den Vorstoss in Postulatsform
[5].
Damit die Bergier-Kommission ihre Aufgabe bewältigen kann, beantragte der Bundesrat im Rahmen des Budgets für 1998 eine
Aufstockung des Rahmenkredites für die Jahre 1997 bis 2001 von 5 auf 22 Mio Fr. Im Ständerat wurde diesem Antrag nicht opponiert. Obwohl ein Streichungsantrag Blocher (svp, ZH) und ein Vorschlag der LP, den Kredit nur um 15 Mio Fr. zu erhöhen, vorlagen, verabschiedete auch der Nationalrat den Beschluss mit klarer Mehrheit (112:37)
[6].
Die Kommission für Rechtsfragen des Nationalrats beantragte mit einer parlamentarischen Initiative, eine Lücke beim dringlichen
Bundesbeschluss aus dem Vorjahr, welcher die Grundlage zur Arbeit der Historikerkommission Bergier bildet, zu schliessen. Auslöser für diesen Vorstoss war die Sicherstellung von alten Bankdokumenten aus dem Shredderraum einer Grossbank durch den Wachmann Meili (siehe dazu unten, Teil I, 4b, Banken). Der Zusatzbeschluss sah vor, dass Personen, welche vor dieser Kommission aussagen möchten oder ihr anderweitig Informationen zukommen lassen, keine Nachteile wegen Verletzung der Treuepflicht gegenüber ihrem Arbeitgeber oder des Berufsgeheimnisses erwachsen dürfen. Dabei soll insbesondere auch ausdrücklich festgehalten werden, dass eine Kündigung in solchen Fällen nicht zulässig wäre. Der Nationalrat stimmte dieser Ergänzung zu. Der Ständerat war hingegen der Ansicht, dass eine solche explizite Formel nicht nötig sei, da
Auskunftspersonen, welche in gutem Glauben handeln, durch den Bundesbeschluss vom Dezember 1996 ausreichend geschützt seien. Die Materialen zu diesem Beschluss würden nach Ansicht der Kommissionsmehrheit den Richtern auch in Zivilsachen eindeutig die Anweisung geben, das Interesse der Öffentlichkeit an der Geschichtsforschung den privaten Klägerinteressen vorzuziehen. Diese Ansicht wurde auch vom Bundesamt für Justiz geteilt. Die kleine Kammer beschloss mit 35 zu 7 Stimmen, nicht auf die Vorlage einzutreten. Im Nationalrat beantragte die Kommissionsmehrheit, am Beschluss festzuhalten, da in bezug auf das Zivilrecht die Rechtslage nicht eindeutig sei; diese Meinung hatte auch der Bundesrat in seiner Stellungnahme zur parlamentarischen Initiative vertreten. Gegen den Widerstand der SVP - welche sich insbesondere auch über die publizistische Ausschlachtung des Falls Meili empörte - entschied der Nationalrat, an der neuen Bestimmung festzuhalten
[7].
In die Debatte schaltete sich auch der nach dem Krieg gegründete und heute noch rund 6500 Mitglieder zählende Verein Schweizer
Armeeveteranen ein. In einem Manifest protestierten sie dagegen, dass die Leistungen der damaligen Bevölkerung als irrelevant für die Wahrung der Unabhängigkeit bezeichnet und der älteren Generation eine Kollektivschuld für angebliche Fehler von Behörden und Wirtschaft angelastet werden. Ihre Exponenten räumten ein, dass gegen historische Forschung, wie sie die Bergier-Kommission betreibt, nichts einzuwenden sei. Es gehe aber nicht an, dass junge Journalisten und Historiker bei der Beurteilung einzelner Handlungen von heutigen Moralvorstellungen ausgehen und die damaligen Zeitumstände nicht berücksichtigten
[8].
[5]
Amtl. Bull. NR, 1997, S. 330-365 (Debatte), 335 (Priorität) und 334 f. sowie 365 (Motion). Vgl. auch die Antwort des BR auf eine Interpellation de Dardel (
Amtl. Bull. NR, 1997, S. 571 f.). Zur Einsetzung und zum Auftrag der Historikerkommission siehe
SPJ 1996, S. 121 ff.5
[6]
Amtl. Bull. StR, 1997, S. 1085;
Amtl. Bull. NR, 1997, S. 2601 ff.;
Bund, 12.6.97;
SGT, 28.8.97;
TA, 29.10.97.6
[7]
BBl, 1997, IV, S. 550 ff., 560 ff. (Zusatzbericht) und 566 ff. (BR);
Amtl. Bull. NR, 1997, S. 1727 ff. und 2507 ff;
Amtl. Bull. StR, 1997, S. 925 ff. Auch die Kommission Bergier hatte einen speziellen Rechtsschutz befürwortet (
NZZ, 29.10.97).7
[8] Presse vom 9.4.97;
NZZ, 6.5.97 (Abdruck des Manifests).8
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