Année politique Suisse 1997 : Sozialpolitik / Gesundheit, Sozialhilfe, Sport / Suchtmittel
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Drogen
Die Diskussionen um die Zukunft der Schweizer Drogenpolitik standen im Berichtsjahr ganz im Zeichen der Abstimmung über die Volksinitiative "Jugend ohne Drogen", deren Annahme die Weiterführung der bisherigen Vier-Säulen-Strategie des Bundes (Prävention, Repression, Therapie und Überlebenshilfe) weitgehend eingeschränkt hätte. Insbesondere die Überlebenshilfe (Methadon- und Heroinprogramme, flächendeckende Spritzenabgabe) wäre bei einer Zustimmung zur Initiative praktisch verunmöglicht worden.
Anfang Jahr beharrten beide Kammern vorerst auf ihrer Haltung gegenüber der Volksinitiative. Zu Beginn der Frühjahrssession bekräftigte der Nationalrat seine Auffassung, wonach der im Vorjahr vom Ständerat ausgearbeitete direkte Gegenvorschlag unnötig und sogar kontraproduktiv sei, weil er eine kontinuierliche Weiterentwicklung der Politik des Bundes verhindern würde. Der Ständerat wollte hingegen am Gegenvorschlag festhalten, weil nur ein gewisses Entgegenkommen gegenüber den Anliegen der Initianten eine mögliche Annahme der Initiative wirksam verhindere. Dennoch kündigte sich ein mögliches Einschwenken auf die Position des Nationalrates an; ein Antrag Schoch (fdp, AR) auf Zustimmung zum Nationalrat unterlag nur knapp mit 23 zu 20 Stimmen [54].
Weil damit die Differenzen zwischen den Räten auch im dritten Anlauf nicht ausgeräumt werden konnten, kam die Einigungskonferenz zum Zuge. Diese schloss sich mit 14 zu 12 Stimmen der Haltung des Nationalrates an, worauf sich beide Kammern mit 81 zu 50 bzw. mit 24 zu 12 Stimmen dafür aussprachen, dem Volk die Initiative ohne Gegenvorschlag zur Ablehnung zu empfehlen. Gleichzeitig mit der Schlussabstimmung wurde auch die Volksinitiative "für eine vernünftige Drogenpolitik (DroLeg)" definitiv und ebenfalls ohne Gegenvorschlag verworfen  [55].
Im Abstimmungskampf, der von beiden Seiten sehr intensiv und emotional geführt wurde, waren die Fronten von Anbeginn klar. Die drei Bundesratsparteien CVP, FDP uns SP sowie die Grünen engagierten sich in einem gemeinsamen Abstimmungskomitee gegen die Initiative. Sie fanden die Unterstützung von rund 20 gesamtschweizerischen Organisationen aus den Bereichen Medizin, Drogen, Sozialarbeit, Kirche und Jugendfragen, die sich in einer Nationalen Arbeitsgemeinschaft Suchtpolitik (NAS) zusammenschlossen, sowie die praktisch einhellige Gefolgschaft aller Printmedien, auch jener aus der Romandie. Mehrere Kantons- und Stadtregierungen, die für gewöhnlich keine Empfehlungen für eidgenössische Urnengänge abgeben, sprachen sich ebenfalls gegen die Initiative aus, unter anderem jene in den besonders von der Drogenproblematik betroffenen Kantonen Basel-Stadt, Bern, Genf und Zürich. Ihnen schloss sich der 1996 zum Zweck einer intensiveren drogenpolitischen Koordination gebildete Nationale Drogenausschuss von Bund, Kantonen und Städten an. Der Bundesrat seinerseits eröffnete seinen Abstimmungskampf viel früher als gewöhnlich. In ungewohnt scharfer Weise bezeichnete Bundesrätin Dreifuss die Ziele der Initiative als unrealistisch, unwirksam und unmenschlich; eine Annahme der Initiative hätte für die eigentlichen Opfer, die Drogensüchtigen, verheerende Folgen und würde dazu führen, dass weiterhin die (noch) nicht ausstiegswilligen Konsumenten härter bekämpft würden als die eigentlichen Profiteure einer repressiven Drogenpolitik, nämlich die Drogenmafia [56].
Die bürgerlichen Parteien - mit Ausnahme der rechtsbürgerlichen FP, SD und EDU, welche die Initiative einhellig unterstützten - zeigten sich allesamt gespalten. Die SVP, vor allem der Zürcher Flügel um Nationalrat und Mitinitiant Bortoluzzi, stellte sich hinter die Initiative, die Sektionen der Kantone Bern, Thurgau und Graubünden bekämpfte sie. Auch die Liberalen traten in beiden Abstimmungskomitees auf, die Waadtländer Leuba und Sandoz bei den Initianten, der Basler Eymann bei den Gegnern. Unter den Befürwortern figurierten auch einige FDP-Nationalräte, namentlich der Neuenburger Frey sowie die Luzerner Aregger, Theiler und Tschuppert. Bei der CVP stellte sich nur gerade ein alt Ständerat (Kündig, ZG) hinter das Volksbegehren [57].
Volksinitiative "Jugend ohne Drogen"
Abstimmung vom 28. September 1997

Beteiligung: 40,6%
Nein: 1 314 060 (70,7%) / 23 6/2 Stände
Ja: 545 713 (29,3%) / 0 Stände

Parolen:
- Nein: CVP (1*), FDP (5*), SP, GP, LdU, EVP, PdA; SGB, CNG, Angestelltenverbände; u.a. Sanitätsdirektorenkonferenz, Justiz- und Polizeidirektorenkonferenz, Verband Schweiz. Polizeibeamter; Verbindung der Schweizer Ärzte FMH.
- Ja: SVP (3*), LPS (3*), FP, SD, EDU; Redressement national; SGV.
- Stimmfreigabe: Lega.

* In Klammer Anzahl abweichender Kantonalsektionen
Dass die Besorgnis der Befürworter eines Gegenvorschlags vergebens gewesen war, zeigte sich spätestens am Abend des Abstimmungssonntags. Mehr als 70% der Stimmenden legten ein Nein in die Urne, nur knapp 30% stimmten zu. Die Initiative erzielte in keinem einzigen Kanton eine zustimmende Mehrheit. Besonders krass (mit über 80% Nein-Stimmen) wurde "Jugend ohne Drogen" in den beiden Stadtkantonen Genf und Basel-Stadt abgelehnt. Dieses Resultat deutete aber in nichts auf einen Gegensatz Stadt-Land in der Drogenpolitik hin, da auch die Zentralschweizer Stände Zug, Ob- und Nidwalden sowie die Kantone Basel-Land, Jura, Solothurn, Graubünden, Zürich, Neuenburg, Aargau und Schaffhausen die Initiative überdurchschnittlich verwarfen. Auch von einem Röstigraben zwischen der eher liberalen Deutschschweiz und der in der Drogenfrage bisher als zurückhaltend geltenden Romandie konnte nicht die Rede sein. Die Neinstimmenanteile in der Waadt und im Kanton Freiburg lagen nur knapp unter dem nationalen Durchschnitt. Einzig in den Kantonen Wallis und Tessin erzielte die Initiative mit knapp über 40% Ja-Stimmen so etwas wie einen Achtungserfolg [58].
Die Vox-Analyse dieses Urnengangs bestätigte die ersten Eindrücke. Zwischen der Deutschschweiz und der Romandie und zwischen städtischen und ländlichen Gebieten war diesmal kein Graben auszumachen. Hingegen spielten das Alter und die Kirchenbindung der Stimmenden eine entscheidende Rolle im Abstimmungsverhalten. Die unter 40jährigen, die nie zur Kirche gehen, lehnten die Initiative mit 95% Nein-Stimmen am deutlichsten ab, während die über 60jährigen Kirchgänger mit 55% Ja-Stimmen die einzige demographische Gruppe stellten, welche dem Begehren zustimmte. Die anderen Merkmale wie Geschlecht, Zivilstand und Ausbildung hatten keinen wesentlichen Einfluss. Spürbare Unterschiede konnten hingegen zwischen den gesellschaftlichen Schichten beobachtet werden: So sprachen sich bei den Landwirten am wenigsten für die Initiative aus (15%), während die unqualifizierten Arbeitskräfte ihr am stärksten zustimmten (41%) [59].
Im Sommer legten die Forschungsbeauftragten den Abschlussbericht über den wissenschaftlichen Versuch zur ärztlich kontrollierten Verschreibung von Betäubungsmitteln vor. Wie bereits der Zwischenbericht hatte vermuten lassen, waren die Resultate der dreijährigen Versuchsreihe durchwegs positiv. Kernaussage des Berichts war, dass sich die heroinunterstützte Behandlung von schwerstsüchtigen Personen bewährt hat und deshalb weiter geführt werden sollte. 83 der 1146 beteiligten Frauen und Männer versuchten in dieser Zeit den völligen Ausstieg aus ihrer Abhängigkeit. Neben den Süchtigen profitierte auch die Allgemeinheit von der Heroin-Verschreibung. So verbesserte sich der Gesundheitszustand der Patientinnen und Patienten, die Obdachlosigkeit sank von 12% auf 1%, und vielen gelang es, wieder in der Arbeitswelt Fuss zu fassen. Schulden konnten massiv abgebaut werden. Als geradezu drastisch bezeichneten die Experten den Rückgang der Straffälligkeit während des Versuches. Die Zahl der Delikte, aber auch der straffälligen Personen und damit der gerichtlichen Verurteilungen nahm massiv ab. Mit der kontrollierten Abgabe konnten so die enormen gesamtwirtschaftlichen (medizinischen und strafrechtlichen) Folgekosten der Drogensucht vermindert werden [60].
Nach der für die Viersäulenpolitik des Bundes ganz eindeutig positiv verlaufenen Abstimmung über die Initiative "Jugend ohne Drogen" kündigte die Landesregierung an, dass sie - in Erwartung einer breiteren Revision der Betäubungsmittelgesetzgebung - dem Parlament beantragen wird, mit einem dringlichen und befristeten Bundesbeschluss die Heroinabgabe an schwerstsüchtige Personen gesetzlich zu regeln. Ende Dezember leitete der Bundesrat den interessierten Kreisen einen Vorentwurf zur Stellungnahme zu [61]. Die überparteiliche Arbeitsgruppe Drogenpolitik der vier Bundesratsparteien empfahl der Landesregierung, die seit Sommer 1996 freigewordenen und in der Unsicherheit um den Ausgang der Volksabstimmung über die Initiative "Jugend ohne Drogen" nicht mehr besetzten Heroinplätze wieder zu vergeben. Der Bundesrat kam dieser Forderung nach und erhöhte mit einer Verordnungsänderung die Zahl der verfügbaren Heroinplätze bis zum Jahr 2000 wieder auf 1000 [62].
Der Bundesrat setzte eine Eidgenössische Kommission für Drogenfragen ein. Das vom St. Galler Präventivmedizinier van der Linde geleitete neue Gremiun ersetzt die Eidgenössische Betäubungsmittelkommission [63].
In Erfüllung einer FDP-Motion von 1996 beantragte der Zürcher Regierungsrat dem Kantonsrat, der Bundesversammlung eine Standesinitiative zur Legalisierung von Cannabis und Marihuana einzureichen. Begleitend dazu müssten - ähnlich wie bei Alkohol - eine Qualitätskontrolle, der staatliche oder staatlich-kontrollierte Vertrieb sowie geeignete Jugendschutzmassnahmen angeordnet werden [64]. Das Parlament des Kantons Basel-Landschaft stimmte ebenfalls einer analogen Standesinitiative zu [65].
Weil die bei Jugendlichen sehr beliebte illegale Droge Ecstasy häufig nicht rein, sondern versetzt mit zum Teil äusserst gefährlichen Substanzen verkauft wird, begrüsste das BAG Tests der Angebote an Technoparties. Gemäss zwei Rechtsgutachten können diese Tests und die Bekanntgabe der Resultate nicht als Dealerservice angesehen werden. Das Bundesamt möchte die Mitteilung an die Partygäste allerdings an präventive Informationen zur Schädlichkeit jeglichen Drogenkonsums und von Ecstasy im speziellen koppeln [66].
 
[54] Amtl. Bull. NR, 1997, S. 2 ff.; Amtl. Bull. StR, 1997, S. 178 ff. Siehe SPJ 1996, S. 243 f.54
[55] Amtl. Bull. NR, 1997, S. 2, 366 f. und 617 f.; Amtl. Bull. StR, 1997, S. 293 ff. und 341; BBl, 1997, II, S. 564 ff. Siehe SPJ 1996, S. 243 f.55
[56] NLZ, 4.4.97; TA, 15.4.97; NZZ, 21.4. 21.5., 14.8. 1.9. und 16.9.97; Presse vom 16.5.97 und vom 1.7. bis 27.9.97. Dreifuss: Presse vom 3.7. und 13.8.97; NZZ, 16.9.97. Kantons- und Stadtregierungen: Bund, 15.8.97; BaZ, 20.8. und 29.8.97; NZZ, 29.8., 4.9. und 9.9.97; JdG, 17.9.97; QJ, 18.9.97.56
[57] Bund, 7.8.97; NZZ, 9.8.97; BZ, 27.8.97; Presse vom 30.8.97. Der Abstimmungskampf der Befürworter begann mit einem Fehlstart; mehrere der prominenten Erstunterzeichner aus den Bereichen Sport und Unterhaltung distanzierten sich von der Initiative, als ihnen klar wurde, dass hinter dem Volksbegehren massgeblich der umstrittene Verein zur Förderung der Psychologischen Menschenkenntnis (VPM) steht (SoZ, 27.4. und 10.8.97). Zur Rolle Kündigs in der Drogenpolitik siehe SPJ 1995, S. 233.57
[58] BBl, 1997, IV, S. 1256 ff.; Presse vom 29.9.97.58
[59] D. Wisler / L. Marquis / M. Bergman, Analyse der eidgenössischen Abstimmungen vom 28 September 1997, Vox Nr. 62, Genf 1997.59
[60] Presse vom 11.7.97. Für den ersten Zwischenbericht siehe SPJ 1995, S. 234.60
[61] Presse vom 7.10. und 20.12.97; SoZ, 14.12.97.61
[62] Presse vom 13.11., 16.12. und 20.12.97. Einen "Notruf" nach mehr Herointherapieplätzen lancierte insbesondere die Stadt Bern (Presse vom 28.11.97). Siehe SPJ 1996, S. 245.62
[63] Presse vom 13.12.97.63
[64] Presse vom 6.2. und 16.12.97. Siehe SPJ 1996, S. 245 und 247.64
[65] Presse vom 7.2. und 17.10.97. Der Berner Regierungsrat hat bereits 1988 in einem Brief an die Landesregierung die Streichung von Cannabisprodukten aus der Liste der verbotenen Betäubungsmittel verlangt (BZ, 14.2.97). Im Basler Universitätsspital wurde Cannabis erstmals versuchsweise als krampflösendes und schmerzlinderndes Medikament eingesetzt (Presse vom 27.2.97).65
[66] Presse vom 3.6.97. Siehe SPJ 1996, S. 247.66