Année politique Suisse 1997 : Sozialpolitik / Gesundheit, Sozialhilfe, Sport
Sozialhilfe
Nachdem in den achtziger Jahren verschiedene kantonale Armutsstudien - ausgehend von unterschiedlichen Definitionen der Armutsgrenze - vorgelegt worden waren, präsentierte die Universität Bern erstmals eine gesamtschweizerische Studie, welche sich sowohl am soziokulturellen wie am subjektiven Armutskonzept orientierte. Das soziokulturelle Existenzminimum rechnet nicht mit der blossen physischen Daseinssicherung, sondern bezieht Komponenten der Teilhabe am Sozialleben mit ein. Es lässt sich nur in Relation zum Wohlstandsniveau der betrachteten Gesellschaft (oder Region) zu einem bestimmten Zeitpunkt ermitteln. Subjektive Armutskonzepte stellen nicht auf die Einschätzung von Experten ab, sondern von allen Gesellschaftsmitgliedern, Betroffene eingeschlossen. Untersucht wurden die Ressourcen der einzelnen Haushalte, aber auch Wohnqualität, Arbeit und Ausbildung, Gesundheit, private Netzwerke und subjektives Wohlbefinden.
Die Armutsgrenze wird in der Schweiz je nach Gesichtspunkt und gesetzlicher Regelung unterschiedlich festgesetzt. Die Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe (Skos) setzt sie für Einpersonenhaushalte bei 980 Fr. (nach Abgabe der Zwangsausgaben Steuern, Sozial- und Krankenversicherung, Alimente, Schuldzinsen und Wohnkostenanteil) fest; als Grenze für die Anspruchsberechtigung auf Ergänzungsleistungen (EL) gelten 1285 Fr., ebenfalls nach Abzug der Zwangsausgaben. Je nachdem, von welcher Armutsgrenze ausgegangen wird, lebten in der Schweiz im Erhebungsjahr 1992 zwischen 390 000 (5,6% der Wohnbevölkerung) und 860 000 (9,8%) Personen, die als "arm" zu gelten haben. Subjektiv nehmen aber längst nicht alle Betroffenen ihre Situation als Armut wahr.
Die Studie ermittelte neben der Anzahl der als arm einzustufenden Personen jene Bevölkerungsgruppen, die für Armut relativ anfällig sind. 60% der Armen in der Schweiz sind
weniger als 40 Jahre alt. Die Auswertung nach Haushaltstypen wies eine besonders hohe Armutsquote bei
Alleinerziehenden, geschiedenen Frauen und allein lebenden Männern aus. Junge,
kinderreiche Familien gehören überdurchschnittlich häufig zur armen Bevölkerung. Signifikant unterdurchschnittliche Armutsquoten weisen Angestellte (im Unterschied zu Selbständigerwerbenden) und Altersrentner auf. Eine besonders hohe Armutsquote findet sich im Kanton Tessin und in der Romandie sowie unter der ausländischen Bevölkerung.
Verdeckte Armut machte die Untersuchung vor allem dort aus, wo Anspruchsberechtigte keine EL oder Sozialhilfe beziehen, weil sie aus nicht genau zu ermittelnden Gründen den Gang zum Sozialamt scheuen bzw.
über ihre Rechte nicht informiert sind. Über 50% der bezugsberechtigten Erwerbstätigen und rund ein Drittel der bezugsberechtigten Rentner beziehen weder Sozialhilfe noch EL. Eine Erhöhung der Bezugsquote könnte die real existierende Armut lindern
[67].
Die Schweizerische Konferenz für öffentliche Sozialhilfe (Skos) stellte
neue Richtsätze für die Ausrichtung von Sozialhilfegeldern vor. Demnach soll auf einem Minimalniveau ein absolutes Recht auf Sozialhilfe sichergestellt werden. Unumgängliche Kosten (Lebensmittel, Kleider etc.) wurden gegenüber früher etwas höher veranschlagt, nicht lebenswichtige Kosten (Abonnemente für den öffentlichen Verkehr, Telephon-Gesprächstaxen, Zeitschriften, Freizeitbedürfnisse der Kinder usw.) hingegen eindeutig tiefer. Linke Parteien und Gewerkschaften bemängelten, dass gerade alle Komponenten, die Lebensqualität bedeuten, mit dieser Regelung zu unwesentlichen Werten verkommen seien. Die Skos überarbeitete ihre Richtlinien darauf in einigen Punkten. Neu setzt sich das soziale Existenzminimum aus dem Grundbedarf 1 und 2 zusammen. Der Grundbedarf 1 deckt das Minimum, das für eine menschenwürdige Existenz nötig ist. Der Grundbedarf 2 soll die Teilhabe am sozialen und gesellschaftlichen Leben erleichtern. Im Normalfall haben unterstützungsbedürftige Personen den Grundbedarf 1 und 2 zugute, wobei dieser wenn immer möglich pauschal ausbezahlt werden soll, damit die betroffenen Menschen Verantwortung für ihre Lebensgestaltung übernehmen können. Falls sie ihre Pflichten zur Selbsthilfe verletzen, können sie für kürzere oder längere Zeit auf den Grundbedarf 1 zurückgestuft werden. Die Skos-Richtlinien sind aber nur eine
Empfehlung an die Gemeinden; diese sind grundsätzlich frei, auch andere Ansätze zur Anwendung zu bringen. Wieder angewendet werden soll die Verwandtenunterstützungspflicht, allerdings nur in auf- oder absteigender Linie und bei überdurchschnittlichem Einkommen
[68].
[67]
Lit. Leu; Presse vom 21.1.97;
Ww, 23.10.97. Nicht berücksichtigt wurden in der auf Daten von 1992 beruhenden Studie die Folgen der seither auf über 5% angestiegenen Arbeitslosigkeit sowie der Einführung des neuen KVG mit den individuellen Prämienverbilligungen. Gemäss den Autoren der Studie haben diese Elemente die Armutsproblematik relativ wenig beeinflusst. Zur Glaubwürdigkeit der Armutsstudie und zu dem daraus abgeleiteten Handlungsbedarf siehe die Stellungnahme des BR zu einer Interpellation Rennwald (sp, JU) in
Amtl. Bull. NR, 1997, S. 1536 f. Vgl. auch die Äusserungen von BR Dreifuss in
Bund, 19.9.97. Für frühere Erhebungen siehe
SPJ 1996, S. 248 f.67
[68]
BaZ, 10.10. und 9.12.97;
Bund, 15.10.97;
JdG und
NZZ, 5.12.97;
TA, 8.12.97. Zur Verbindlichkeit der Skos-Richtlinien vgl.
SPJ 1996, S. 249. Für Bestrebungen, das Einkommen im Bereich des Existenzminimums von den direkten Steuern zu befreien siehe oben, Teil I, 5 (Direkte Steuern).68
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