Année politique Suisse 1997 : Sozialpolitik / Sozialversicherungen
Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV)
Die Leistungen der AHV stiegen 1997 um 4% auf 25 803 Mio Fr. 98,5% davon entfielen auf die Geldleistungen, insbesondere die Renten. Allein wegen der Anpassung an die Teuerung fielen diese um 2,6% (640 Mio Fr.) höher aus als im Vorjahr. Kostensteigernd wirkten ferner der demographisch bedingte Zuwachs der Rentnerinnen und Rentner, der überproportionale Anstieg von Rentenabfindungen und Beitragsüberweisungen an ehemalige ausländische Arbeitskräfte sowie der allmähliche Übergang von der Ehepaarrente zu zwei Einzelrenten. Die gesamten Einnahmen der AHV deckten mit 25 219 Mio Fr. 97,7% der Ausgaben. Durch das
Defizit von 583 Mio Fr. (Vorjahr -28 Mio Fr.) verringerte sich das Vermögen der AHV auf 23 223 Mio Fr., was noch 90% der Ausgaben entspricht. Nach dem AHV-Gesetz sollte der AHV-Fonds "in der Regel" nicht unter eine Reserve von einer Jahresausgabe sinken. Durch das dem Parlament beantragte zusätzliche Mehrwertsteuerprozent (siehe unten) sollte sich das Rechnungsergebnis ab 1999 deutlich verbessern
[8].
Seit dem Inkrafttreten der 10. AHV-Revision ist es dem Ausgleichsfonds der AHV gestattet, in begrenztem Rahmen Aktien von schweizerischen Unternehmen zu erwerben. Der Verwaltungsrat des Fonds leitete demzufolge eine
neue Anlagepolitik in die Wege. Im Verlaufe des Sommers wurden für 500 Mio Fr. Fremdwährungsobligationen und für weitere 500 Mio Schweizer Aktien gekauft. Diese Anlagen werden durch externe Spezialisten bewirtschaftet
[9].
Am 1. Mai verabschiedete der Bundesrat eine Botschaft zuhanden der eidgenössischen Räte mit dem Antrag, das in der Mehrwertsteuervorlage von 1993 vorgesehene
zusätzliche Mehrwertsteuerprozent zugunsten der AHV auf Anfang 1999 zu mobilisieren. Die Bundesverfassung (Art. 41ter Abs. 3bis) erlaubt diese Massnahme, wenn wegen der Entwicklung des Altersaufbaus die Finanzierung der AHV und IV nicht mehr gewährleistet ist. In formeller Hinsicht wird hierfür der Erlass eines allgemeinverbindlichen, dem fakultativen Referendum unterstellten Bundesbeschlusses vorgeschrieben. Gemäss Vorschlag des Bundesrates soll der ordentliche Mehrwertsteuersatz von 6,5 auf 7,5% angehoben werden, die reduzierten Mehrwertsteuersätze hingegen unter Wahrung der bisherigen Satzproportionen in entsprechend geringerem Umfang (von 2,0% auf 2,3% für den reduzierten Satz auf den Gütern des täglichen Bedarfs und von 3,0 auf 3,5% für den Sondersatz für Beherbergungsleistungen)
[10].
Die Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit im
Ständerat befürwortete zwar
einstimmig die Erhebung eines zusätzlichen Mehrwertsteuerprozentes, wollte dieses aber
erst 2000 einführen - ein Jahr später als vom Bundesrat beantragt. Die Kommissionsmehrheit argumentierte, bei einer Inkraftsetzung 1999 sei der zögerliche wirtschaftliche Aufschwung gefährdet. Überdies stehe der Entzug von Mitteln aus dem Wirtschaftskreislauf im Widerspruch zum beschlossenen Impulsprogramm. Das Plenum folgte aber mit 23 zu 15 Stimmen einem Antrag Beerli (fdp, BE) und Brunner (sp, GE), die wie der Bundesrat
bereits 1999 das zusätzliche Prozent erheben wollten. Beerli argumentierte, dass sich der Bund eine spätere Einführung finanziell nicht leisten könne. Selbst mit dem zusätzlichen MWSt-Prozent seien die Kosten der zunehmenden Alterung nicht voll gedeckt. Auch bezweifelte Beerli, dass die erhöhte Mehrwertsteuer die wieder erwachte Konsumneigung der Bevölkerung brechen könnte. Mehr Sicherheit bei den Sozialwerken könne möglicherweise die Kauflust gar steigern
[11].
Der Bundesrat beantragte dem Parlament, die
Volksinitiative der Gewerkschaften SGB und CNG
"für die 10. AHV-Revision ohne Erhöhung des Rentenalters" Volk und Ständen
zur Ablehnung zu empfehlen. Er begründete seinen Beschluss mit dem Wunsch, längerfristig die vollständige Gleichstellung der Geschlechter beim Rentenalter im Rahmen eines flexibilisierten Systems zu erreichen sowie mit den hohen Kosten, welche mit der Beibehaltung des Rentenalters 65/62 verbunden wären. Die Initiative bezweckt, die mit der 10. AHV-Revision beschlossene Erhöhung des Rentenalters der Frauen auf 64/65 Jahre bis zum Inkrafttreten der 11. AHV-Revision auszusetzen
[12].
Die Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrates beantragte dem Rat überraschend mit 12 zu 9 Stimmen Annahme der Initiative. In der Plenumsdebatte zeigte sich aber rasch, dass die befürwortende Kommissionsmehrheit einer fast
geschlossenen Allianz der bürgerlichen Parteien gegenüber stand. Als Hauptargument führten diese an, die Initiative würde die an und für sich schon schwierige
finanzielle Lage der AHV zusätzlich massiv belasten; ferner setze die den Frauen mit der 10. AHV-Revision zugestandene Gleichstellung in den Rechten auch eine solche bei den Pflichten voraus. Demgegenüber wiesen die Vertreter und Vertreterinnen der links-grünen Parlamentsminderheit auf die Folgen der Heraufsetzung des Rentenalters der Frauen für den Arbeitsmarkt hin. Bundesrätin Dreifuss appellierte einmal mehr an das Parlament, Lösungen für eine flexible Pensionsaltersregelung zu finden. Mit 111 zu 72 Stimmen empfahl der Nationalrat Volk und Ständen die
Ablehnung der Initiative. Auch im Ständerat hatte die Initiative der Gewerkschaften keine Chancen. Als Gegenargumente wurden auch hier die Kosten und die finanzielle Lage der AHV vorgebracht
[13].
Der Schweizerische Kaufmännische Verein hatte Mitte Mai 1996 eine
Volksinitiative "für eine Flexibilisierung der AHV - gegen eine Erhöhung des Rentenalters für Frauen" eingereicht. Zehn Tage darauf waren die Grünen mit ihrem Begehren für ein
flexibles Rentenalter ab 62 für Frau und Mann gefolgt - gekoppelt mit einer zweiten Initiative, welche die Einführung einer
Energiesteuer zur Mitfinanzierung der Sozialwerke fordert. Beide Volksbegehren verlangen die Einführung einer Ruhestandsrente in der AHV. Danach sollen Frauen wie Männer ab dem 62. Altersjahr eine ungekürzte Altersrente beziehen können, wenn sie ihre Erwerbstätigkeit aufgeben oder - im Fall der SKV-Initiative - nur noch ein Erwerbseinkommen unter dem Anderthalbfachen der Mindestrente erzielen
[14]. Mitte Dezember
lehnte der
Bundesrat in seiner Botschaft an die Räte
beide Initiativen ohne Gegenvorschlag
ab, obgleich ihm die eidgenössische AHV/IV-Kommission - wenn auch nur sehr knapp - eine Annahme der Initiativen empfohlen hatte. Die Landesregierung argumentierte, dass die Ruhestandsrente ab Alter 62 tendenziell zu einer allgemeinen Senkung des Rentenalters mit
erheblichen Kostenfolgen führen würde. Er schätzte die Mehrbelastung der Sozialwerke auf netto 1,6 Mia Fr.: Mehrkosten von 2,46 Mia Fr. bei der AHV stünden Einsparungen von 490 Mio Fr. bei der IV und 365 Mio Fr. bei der ALV gegenüber
[15].
Ein Postulat Vermot (sp, BE), welches anregte, der Bundesrat solle sich doch noch einmal eingehend mit der Frage einer möglichen Nachzahlung von
fehlenden AHV-Beitragsjahren befassen, wurde mit Zustimmung des Bundesrates überwiesen. Bei der Beratung der 10. AHV-Revision war - vor allem aus Rücksicht auf die Auslandschweizerinnen und -schweizer - beschlossen worden, dass ab 1990, je nach Beitragsdauer, bis zu drei Jahre rückwirkend angerechnet werden können. Vermot begründete ihren Vorstoss damit, dass dieser Zeitraum je nach persönlicher Biographie völlig ungenügend sei
[16].
Auf Antrag seiner vorberatenden Kommission lehnte der Nationalrat eine parlamentarische Initiative Keller (sd, BL) ab, welche erreichen wollte, dass AHV- und IV-Renten, welche an Personen mit Wohnsitz im Ausland überwiesen werden, der
Kaufkraft des jeweiligen Landes anzupassen seien. Da im Plenum nicht einmal mehr der Initiant das Wort ergriff, wurde der Vorstoss diskussionslos verworfen
[17].
Der Ständerat nahm relativ knapp eine Empfehlung Rochat (lp, VD) an, welche anregte, der Bund möge auf die Erhebung von AHV-Prämien für jene ausländischen Arbeitskräfte verzichten, welche im Bereich der Landwirtschaft und des Rebbaus beschäftigt werden und die sich weniger als acht Wochen in der Schweiz aufhalten. Damit sollte die kurzfristige Anstellung ausländischer Arbeitnehmer in extrem jahreszeitlich geprägten Betrieben erleichtert werden
[18].
Um das in letzter Zeit etwas ramponierte
Vertrauen der Bevölkerung in die AHV wieder neu zu beleben, überwies der Ständerat eine Empfehlung Bieri (cvp, ZG), die den Bundesrat auffordert, im Jubiläumsjahr 1998 (150 Jahre Bundesstaat und 50 Jahre Bestehen der AHV) eine nationale AHV-Kampagne zu lancieren, welche die landesweite Bedeutung der AHV darstellen und die Idee der Solidarität zwischen den Generationen im Bewusstsein der Bevölkerung vertiefen soll
[19].
[8] Presse vom 7.3.98. Vgl.
SPJ 1996, S. 255.8
[10]
BBl, 1997, III, S. 741 ff. Vgl. auch J. Teygeler, "Der Bundesrat schlägt die Anhebung der Mehrwertsteuersätze für die AHV/IV vor", in
CHSS, 1997, S. 137 ff.; O. Brunner-Pathey, "Volkswirtschaftliche Wirkungen der Mehrwertsteuer-Anhebung", in
CHSS, 1997, S. 271 f. Zur ursprünglichen MWSt-Vorlage siehe
SPJ 1993, S. 128 ff.10
[11]
Amtl. Bull. StR, 1997, S. 1252 ff.11
[12]
BBl, 1997, II, S. 653 ff. Siehe dazu
SPJ 1994, S. 220 und
1995, S. 246.12
[13]
Amtl. Bull. NR, 1997, S. 1623 ff. und 2913 f.;
Amtl. Bull. StR, 1997, S. 1260 ff. und 1375;
BBl, 1997, IV, S. 1606 f.13
[15]
BBl, 1998, S. 1175 ff.15
[16]
Amtl. Bull. NR, 1997, S. 1485.16
[17]
Amtl. Bull. NR, 1997, S. 1644 f. Immer mehr Kantone richten ausländischen Arbeitskräften mit Kindern im Heimatland die Kinderzulagen nur noch gemäss der Kaufkraft des jeweiligen Landes aus (
SGT, 7.7.97).17
[18]
Amtl. Bull. StR, 1997, S. 433 ff.18
[19]
Amtl. Bull. StR, 1997, S. 266 ff. Zum AHV-Jubiläum siehe auch
CHSS, 1997, Nr. 6 (Schwerpunktthema).19
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