Année politique Suisse 1997 : Sozialpolitik / Sozialversicherungen
 
Invalidenversicherung (IV)
Die Invalidenversicherung schloss erneut mit tiefroten Zahlen ab. Das Defizit von 615 Mio Fr. (Vorjahr -427 Mio Fr.) erhöhte den gesamten Schuldenbetrag der Versicherung auf 2190 Mio Fr. Die Ausgaben der IV stiegen auch im Berichtsjahr stärker an als jene der AHV, doch schwächte sich die Zunahme mit 4,6% (Vorjahr 7,1%) deutlich ab [20].
Der Bundesrat unterbreitete dem Parlament den ersten Teil der 4. IV-Revision, mit welchem vor allem die Finanzierung dieses Versicherungszweiges mittelfristig sichergestellt werden soll. Als Einsparung bei den Ausgaben schlug er vor, für Neurentner die Zusatzrenten für die Ehepartnerin oder den Ehepartner sowie die Viertelsrenten abzuschaffen. Zudem beantragte er, die Härtefallrenten für Versicherte mit einem Invaliditätsgrad zwischen 40 und 50%, die in wirtschaftlich schwierigen Verhältnissen leben, in das System der Ergänzungsleistungen zu überführen. Weitere Einsparungsmöglichkeiten sah der Bundesrat im Bereich der Kostensteuerung, wo Bedarfsplanungen für Werkstätten, Tagesheime und -stätten eingeführt sowie die gesetzlichen Grundlagen geschaffen werden sollen, um statistische Erhebungen und Wirkungsanalysen der IV-Leistungen vorzunehmen. Auf der Einnahmenseite kleidete der Bundesrat seine Vorstellungen in zwei allgemeinverbindliche Bundesbeschlüsse. Zum einen sollte ein Kapitaltransfer von 2,2 Mia Fr. von der derzeit überfinanzierten Erwerbsersatzordnung (EO) in die IV vorgenommen werden. Zum anderen schlug er eine befristete Erhöhung des Beitragssatzes der IV um 1 Lohnpromille auf Kosten der EO vor [21].
Angesichts der Dringlichkeit der Sanierung wurden die Finanzierungsbeschlüsse vorgezogen und in beiden Räten gleichzeitig behandelt. Zuerst stimmte der Ständerat - wenn auch nicht oppositionslos - mit 23 zu 11 Stimmen dem Transfer von 2,2 Mia Fr. aus dem EO- in den AHV/IV-Fonds zu. Ein Antrag Seiler (svp, SH), nur die Hälfte des Betrages zu überweisen, wurde recht deutlich verworfen. Abgelehnt wurde hingegen mit 21 zu 16 Stimmen Eintreten auf den Bundesbeschluss über die befristete Verlagerung eines Lohnpromilles der EO zugunsten der IV. Vertreter der CVP und der SP begründeten dies damit, dass dieses Lohnpromille der geplanten Mutterschaftsversicherung vorbehalten bleiben sollte. Demgegenüber wollten insbesondere Teile der FDP die EO-Kasse nicht beanspruchen, bevor nicht die genauen Pläne für die 6. EO-Revision bekannt sind [22].
Im Nationalrat wurde die Umlagerung von EO-Geldern zur IV ebenfalls mit einem gewissen Unbehagen aufgenommen. Ein rechtsbürgerlicher Antrag auf eine lediglich darlehensmässige Übertragung der Mittel scheiterte aber ebenso wie ein aus den gleichen Kreisen stammender Vorschlag, die Vorlage nur in Zusammenhang mit der 6. EO-Revision zu beraten. Auch ein CVP-Antrag, die überschüssigen EO-Gelder anstatt für die IV eher für die Mutterschaftsversicherung einzusetzen, wurde abgelehnt. Der Rat stimmte schliesslich sowohl dem einmaligen Finanztransfer als auch - mit 85 zu 75 Stimmen - der Verschiebung eines Lohnpromilles von der EO zur IV zu. Damit schuf er eine gewichtige Differenz zum Ständerat. Diese konnte nicht ausgeräumt werden, da die kleine Kammer an ihrem Entscheid auf Nichteintreten festhielt. Dadurch wurde dieser zweite Bundesbeschluss obsolet  [23].
In der Wintersession befasste sich der Ständerat mit den weiteren Punkten des ersten Teils der 4. IV-Revision, welche vorab Massnahmen zur Kosteneinsparung beinhalten. Unbestritten war die Aufhebung der Zusatzrente für die Ehepartnerin oder den Ehepartner, nachdem die gleiche Leistung in der AHV mit der 10. Revision bereits gestrichen worden war. Hingegen erwuchs der Abschaffung der Viertelsrente Opposition, und dies nicht bloss aus SP-Kreisen. Die Gegner argumentierten, dies gehe in die falsche Richtung, weil damit die Eingliederung Behinderter noch mehr erschwert werde; zudem bestehe die Gefahr, dass dadurch die Zahl der (teureren) 50%-Renten ansteige. Die Befürworter der Abschaffung wiesen darauf hin, dass die Viertelsrenten nur schwach beansprucht würden (ca. 4000 Fälle seit deren Einführung) und dass Härtefälle durch das EL-System aufgefangen werden könnten. Der Rat sprach sich schliesslich mit 23 zu 13 Stimmen für die Aufhebung aus [24].
Im Hinblick auf die gesamthaft anstehende 4. IV-Revision erarbeitete die Stiftung "Pro Mente Sana" zwei Modelle zur beruflichen Integration Behinderter, eines mit einem Bonus-Malus-System und Quoten, das andere mit einem schlankeren Anreizsystem. Gemäss der "Pro Mente Sana" könnten bei erfolgreicher Eingliederung der Behinderten bei der IV rund 228 Mio Fr. pro Jahr gespart werden. Die Stiftung gab zu bedenken, dass die Finanzen der IV nicht zu sanieren seien, solange Behinderte vom Arbeitsmarkt vertrieben werden. Die IV müsse ihren Grundsatz "Eingliederung vor Rente" wieder neu beleben können [25].
 
[20] Presse vom 7.3.98. Vgl. SPJ 1996, S. 257.20
[21] BBl, 1997, IV, S. 149 ff. Zu dem in den letzten Jahren oftmals erhobenen Vorwurf des Missbrauchs der Invalidenversicherung nahm der BR im Rahmen einer Interpellation Dormann (cvp, LU) ausführlich Stellung (Amtl. Bull. NR, 1997, S. 1496 ff.). Zur Höhe des EO-Vermögens siehe die Erklärungen des BR in Beantwortung einer Interpellation im StR (Amtl. Bull. StR, 1997, S. 263 ff.).21
[22] Amtl. Bull. StR, 1997, S. 759.22
[23] Amtl. Bull. NR, 1997, S. 1942 ff., 1946 ff. und 2326 f.; Amtl. Bull. StR, S. 970 ff. und 1024.23
[24] BBl, 1997, IV, S. 811; Amtl. Bull. StR, 1997, S. 1269 ff. Für die vom Parlament mehrmals verweigerte Aufhebung der Viertelsrente siehe SPJ 1992, S. 226 und 1995, S. 248.24
[25] NZZ, 14.6.97; BaZ, 19.6.97.25