Année politique Suisse 1997 : Bildung, Kultur und Medien / Kultur, Sprache, Kirchen
 
Kirchen
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Generelle Fragen
Das Bundeamt für Statistik publizierte Untersuchungsergebnisse, die - auf der Basis der Volkszählungsdaten von 1990 - den Befund bestätigten und präzisierten, dass die religiöse Vielfalt in der Schweiz zunimmt. Die Landeskirchen umfassen zwar immer noch 86% der Bevölkerung, doch hat die Einwanderung den Anteil anderer Konfessionen und Religionen erhöht. Unter den Einwohnerinnen und Einwohnern waren 1990 die Protestanten immer noch etwas zahlreicher als die Katholiken, ebenso in der Bevölkerung der über 40-jährigen. Angehörige von Ostkirchen machten 1990 1% der Wohnbevölkerung aus, Muslime 2,2%. Deren Zahl dürfte seither in Zusammenhang mit der Anwesenheit von Bosniern und Kosovo-Albanern noch deutlich gewachsen sein.
Mehr als eine halbe Million Einwohner der Schweiz (7,4%) erklärten 1990, sie gehörten keiner Religionsgemeinschaft an. Ihr Anteil ist in den Kantonen mit weitgehender Trennung von Kirche und Staat (Neuenburg, Genf) sowie in Basel-Stadt besonders hoch. 1970 hatte diese in der Statistik 1960 geschaffene Kategorie erst 1,1% der Bevölkerung umfasst. Die Relativierung traditioneller Prägungen zeigt sich auch in den geographischen Unterschieden: Die Reformierten sind nur noch im Kanton Bern mit 72% klar in der Mehrheit. Knapp 50% erreichten sie 1990 in den Kantonen Glarus, Thurgau, Waadt, Neuenburg, Zürich, Baselland, Schaffhausen und Appenzell Ausserrhoden. Demgegenüber sind elf Kantone zu mindestens 70% katholisch. In 22,5% der Ehen gehörten 1990 die Ehepartner unterschiedlichen Glaubensgemeinschaften an gegen lediglich 5% 1880 [42].
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Katholische Landeskirche
Im Rahmen eines eintägigen Arbeitsbesuchs zu Jahresbeginn in Rom stattete Bundesrat Cotti auch dem Vatikan eine kurze Visite ab. Nach einer Audienz bei Papst Johannes Paul II. unterrichtete er Kardinal-Staatssekretär Sodano, den "Aussenminister" des Heiligen Stuhls, über die grosse Besorgnis der katholischen Bevölkerung der Schweiz bezüglich der Verhältnisse im Bistum Chur  [43].
Fast gleichzeitig mit einem Rombesuch von Bischof Haas, bei welchem dieser dem Papst die Situation im Bistum Chur aus seiner Sicht darlegte, forderten die römisch-katholischen Landeskirchen des Bistums ihre Kantonsregierungen und den Bundesrat auf, Schritte zu unternehmen, die auf personelle Verschiebungen in der Diözese Chur abzielen. Die Regierungen der sieben Kantone, welche dem Bistum Chur angegliedert sind (Uri, Schwyz, Ob- und Nidwalden, Zug, Zürich und Graubünden), intervenierten Mitte Februar beim Bundesrat und baten ihn, sich mit allen ihm zur Verfügung stehenden diplomatischen Mitteln für die Wiederherstellung des religiösen Friedens im Bistum einzusetzen. Der Bundesrat erachtete das Anliegen als nicht besonders dringlich und beantwortete das Schreiben vorerst nicht [44].
Ende August wandten sich die Regierungen der Bistumskantone erneut an Bundesrat Cotti mit der Bitte, sich beim Heiligen Stuhl für eine Lösung des Churer Bistumkonflikts einzusetzen. Nach der Aussprache erklärten sie, sie seien aus Sorge um den religiösen Frieden an den Bundesrat gelangt. Der Fall Haas sei längst kein innerkatholisches Problem mehr, sondern eines von gesamtgesellschaftlicher Tragweite. Das zeigten Konflikte in den Kantonen, aber auch die versuchte Einflussnahme des Churer Bischofs auf das Verhältnis von Kirche und Staat. Bundesrat Cotti versprach, die Angelegenheit vertieft prüfen zu lassen, machte im übrigen aber keine verbindlichen Zusagen eine diplomatische Intervention betreffend [45].
Ebenfalls Ende August reisten die Schweizer Bischöfe in corpore für eine Woche nach Rom. Der alle fünf Jahre stattfindende "Ad-limina-Besuch" der Diözesanbischöfe eines Landes beim Papst ist eigentlich eine Routineangelegenheit. Diesmal hatte der Besuch eine gewisse Brisanz, weil allen Beobachtern klar war, dass die Schweizer Bischöfe personelle Änderungen im Bistum Chur verlangen würden. Auch auf diese Intervention erfolgte vorerst kein Einlenken aus Rom, ganz im Gegenteil: der Papst mahnte die Schweizer Bischöfe zu mehr Einigkeit und kritisierte deren Distanzierung von Haas [46].
Anfangs Oktober beschloss der Bundesrat, den Schweizer Sonderbotschafter beim Heiligen Stuhl mit einer diplomatischen Demarche zu betrauen, um dem Papst die Sorge der sieben Bistumskantone über die Lage im Bistum Chur angemessen zum Ausdruck zu bringen. Der Bundesrat betonte, dass dieser Schritt nicht bedeute, dass er sich in die inneren Angelegenheiten der Kirche einmischen wolle. In einer gleichentags verabschiedeten Antwort auf eine Anfrage von Nationalrätin Grendelmeier (ldu, ZH) schrieb der Bundesrat, es wäre übertrieben zu sagen, dass durch den Fall Haas der religiöse Friede in der Schweiz gefährdet sei. Er sehe daher keinen Anlass, von sich aus Massnahmen zu treffen. Er wolle aber alle sich künftig ergebenden Möglichkeiten der Diplomatie zur Lösung des Konfliktes ergreifen [47].
Haas, durch die Haltung des Papstes beim Ad-limina-Besuch in seinem Selbstbewusstsein bestärkt, ernannte im November drei neue Bischofsvikare, die von der Basiskirche aufgrund deren Haastreue als Provokation erachtet wurden. 14 der 16 Dekane des Bistums protestierten heftig gegen diesen Personalentscheid, der als faktische Entmachtung der beiden Weihbischöfe Vollmar und Henrici gedeutet wurde, welche Rom 1993 zur Entspannung der Stimmung in der Diözese Chur eingesetzt hatte. Der Priesterrat des Bistums forderte daraufhin Haas zum Rücktritt auf. Ob es die eigenwillige Personalpolitik war, welche den Sinneswandel in Rom ermöglichte, oder die diplomatische Demarche des Bundesrates konnte nicht eruiert werden: so oder so wurde Haas anfangs Dezember von Chur auf den neu geschaffenen Sitz eines Erzbischofs von Vaduz "wegbefördert". Mit Erleichterung und unverhohlener Freude reagierten die Vertreter der Bistumskantone und die meisten Chur unterstellten Gläubigen auf diese Nachricht. Auch Bundesrat Cotti konnte eine gewisse Genugtuung über den Abgang von Bischof Haas nicht verbergen, da er darin eine bedeutende Verbesserung der Gesprächskultur sah [48].
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Israelitische Kultusgemeinden
Als Schweizer Premiere übernahm der Kanton Bern aufgrund seiner neuen Kantonsverfassung die Entlöhnung der jüdischen Rabbiner der Kultusgemeinden Bern und Biel. Damit geht Bern über die Anerkennung der israelitischen Kultusgemeinden hinaus, welche in den letzten Jahren in den Kantonen Basel-Stadt und Freiburg vorgenommen wurden [49].
Zum aufkommenden Antisemtismus in Zusammenhang mit der Diskussion über die Haltung der Schweiz im 2. Weltkrieg siehe oben, Teil I, 1a (Grundsatzfragen).
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Muslimische Glaubensgemeinschaft
Das Bundesgericht befand, einer zum Islam konvertierten Primarlehrerin sei zu Recht verboten worden, während des Unterrichts ein Kopftuch oder einen Schleier zu tragen. Die Lausanner Richter vermochten in dem vom Genfer Erziehungsdepartement erlassenen Kopftuchverbot keine Verletzung der Glaubens- und Gewissenfreiheit erblicken. Von Bedeutung sei hingegen, dass die Lehrerin an der Primarschule und damit Kinder unterrichte, die besonders leicht beeinflussbar seien. Würde man der Lehrerin erlauben, das als stark einzustufende Symbol des Kopftuchs im Unterricht zu tragen, so käme dies laut Bundesgericht einem Präjudiz gleich. Es wäre auch schwer mit dem Verbot des Aufhängens eines Kruzifixes in den öffentlichen Schulen vereinbar [50].
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Sektenähnliche Gruppierungen
Nachdem 1994 und 1995 bei vier Dramen um die Sonnentemplersekte 74 Menschen ums Leben gekommen waren, darunter auch eine gewisse Anzahl von in Genf ansässigen Personen, hatte die Genfer Regierung einen Expertenbericht in Auftrag gegeben, um sich ein Bild über das Ausmass der Gefahr zu machen, die von zweideutigen religiösen Organisationen ausgeht. Nach Abschluss ihrer Untersuchung schlugen die Experten nicht weniger als 40 Massnahmen gegen die negativen Einflüsse sektenähnlicher Organisationen und Gruppierungen vor. Angeregt wurden unter anderem eine verstärkte Aufklärung über Sekten im allgemeinen sowie eine Verbesserung der Opferhilfe für Ausstiegswillige. Die Genfer Regierung leitete darauf dem Kantonsparlament zwei Standesinitiativen zu. Mit der einen Initiative soll ein Artikel ins Strafgesetzbuch aufgenommen werden, der die "Gehirnwäsche" von Menschen strafbar machen würde. Das zweite Begehren sieht vor, dass die Gründung und das Bestehen eines Vereins obligatorisch den Behörden gemeldet werden muss [51].
Im Juni trafen sich Vertreter aller Kantone der Romandie sowie des Tessins in Genf, um Massnahmen gegen sektenähnliche Organisationen gemeinsam anzugehen. Da sie grosse Unterschiede in der kantonalen Gesetzgebung und der tatsächlichen Betroffenheit feststellten, beschlossen sie, eine Arbeitsgruppe einzusetzen, um ein einvernehmliches Vorgehen gegenüber den Sekten abzustimmen [52].
Erstmals in der Schweiz verneinte ein Gericht in der Schweiz die Frage, ob Scientology eine Religion sei. Gegenüber einem Scientology-Anhänger, der sich wegen seiner Zugehörigkeit zu dieser Gruppierung im Sinn des Antirassismus-Gesetzes diskriminiert fühlte, vertrat die St. Galler Anklagekammer die Ansicht, aufgrund ihrer Selbstdarstellung müsse Scientology als religiöse Philosophie und nicht als Religion bezeichnet werden. Das Bundesgericht wies die Klage des Scientology-Anhängers ebenfalls ab, da dieser nicht in der Lage war, eine zivilrechtliche Schadenersatzforderung zu begründen [53].
Gemäss der Auffassung der Konsultativen Staaatsschutzkommission soll Scientology in der Schweiz vorerst nicht überwacht werden. Die innere Sicherheit des Landes werde durch diese Gruppierung nicht unmittelbar gefährdet. In Deutschland hatten die Innenminister der Länder entschieden, die Organisation künftig vom Verfassungsschutz beobachten zu lassen. Die Staatsschutzkommission erklärte, ihre Einschätzung unterscheide sich von jener anderer Staaten, weil in der Schweiz extreme und totalitäre Ansichten nur überwacht werden dürften, wenn sie mit Straftaten gegen den Staat oder mit Gewalt verbunden seien. Für Tätigkeiten, wie sie Scientology betreibt, seien zudem zumeist die Kantone zuständig [54].
Als erster Schweizer Kanton bereitete der Kanton Basel-Stadt einen Gesetzesentwurf vor, der die vielfach als Belästigung empfundene Strassenmission von Scientology einschränken will [55].
 
[42] Lit. Bovey; Presse vom 15.8.97. Siehe SPJ 1993, S. 263 f.42
[43] NZZ, 15.1.97.43
[44] NZZ, 4.2.97; TA und BüZ, 5.2., 13.5. und 14.5.97; Presse vom 6.2., 15.2. und 5.4.97. Siehe SPJ 1992, S. 282.44
[45] Presse vom 26.8.97; Lib., 28.8.97.45
[46] BaZ, 14.8.97; NZZ, 28.8.97; Presse vom 30.8., 5.9. und 10.9.97. Zur Einschätzung der Schweizer Bischöfe, die Lage im Bistum Chur sei auswegslos, solange Haas die Diözese leite, siehe SPJ 1996, S. 315.46
[47] Presse vom 7.10. und 24.10.97; Amtl. Bull. NR, 1997, S. 2922 f.47
[48] Presse vom 10.11., 22.11., 3.12. und 4.12.97. Zu den Weihbischöfen siehe SPJ 1993, S. 265.48
[49] Lib., 1.7.97; TA, 2.7.97. Siehe SPJ 1996, S. 315.49
[50] Presse vom 20.11.97. Zum Kruzifix-Verbot in öffentlichen Räumen siehe SPJ 1990, S. 270, 1993, S. 264 und 1995, S. 298.50
[51] Presse vom 19.2.97. Siehe SPJ 1995, S. 298.51
[52] CdT und JdG, 13.6.97.52
[53] Presse vom 14.2.97; SGT, 25.6.97. Zu weiteren Gerichtsverfahren gegen Scientology-Vertreter siehe NZZ, 26.4.97.53
[54] Bund, 11.6.97; NLZ, 25.7.97. Zum Bericht der Staatsschutzkommission siehe auch die Antwort des BR auf eine Frage Günter (sp, BE): Amtl. Bull. NR, 1997, S. 1193.54
[55] Bund, 15.8.97.55