Année politique Suisse 1998 : Allgemeine Chronik
Überblick
Die Schweiz feierte im Berichtsjahr das 150. Geburtsjahr der Bundesverfassung von 1848, welche nicht nur die Schweiz von einem Staatenbund zu einem Bundesstaat machte, sondern auch die heute noch geltenden Grundlagen für den demokratischen Staatsaufbau schuf (aus allgemeinen Wahlen hervorgegangenes Parlament, vom Parlament gewählte und nach dem Departementalsystem organisierte Kollegialregierung, Volksabstimmungen über Verfassungsrevisionen). Rechtzeitig zu diesem Jahrestag konnte das Parlament die Totalrevision der Bundesverfassung unter Dach bringen.
Im Ganzen gesehen hielt sich das Parlament an das 1987 beschlossene Konzept der Nachführung der Verfassung und verzichtete, abgesehen von wenigen Ausnahmen (Kinder- resp. Behindertenartikel), auf wichtige materielle Neuerungen. Die Linke, welche den Anlass auch zu inhaltlichen Reformen nutzen wollte, opponierte vergeblich gegen diese Beschränkung. Deklariertes Hauptziel der Parlamentsmehrheit war es, die Verfassung, welche seit 1874 nicht weniger als 140 mal teilrevidiert worden war, wieder in eine klare Struktur und eine lesbare Sprache zu bringen. So wurden beispielsweise die Grundrechte und die Sozialziele, welche bisher in der Verfassung und in internationalen Verträgen verstreut waren, in übersichtlichen Katalogen zusammengefasst. Obwohl einzelne Passagen im Parlament zu heftigen Diskussionen führten (so etwa die Präambel, die exakte Formulierung des Diskriminierungsverbots oder die Aufnahme des Streikrechts unter die Grundrechte), war das öffentliche Interesse an den Parlamentsberatungen eher gering.
Die Behandlung der als Teile B und C ebenfalls zum Totalrevisionsprojekt gehörenden Vorlagen „Volksrechte“ und „Justizreform“ geriet demgegenüber in zeitlichen Verzug. Die Justizreform steckte zu Jahresende noch in der Differenzbereinigung zwischen den beiden Parlamentskammern. Die Plenumsberatungen zur Reform der Volksrechte konnten hingegen im Berichtsjahr noch gar nicht begonnen werden. Der Grund für diese Verzögerung lag darin, dass sich in den Verfassungskommissionen der beiden Ratskammern völlig gegensätzliche Meinungen zur Frage der Wünschbarkeit einer Erhöhung der Unterschriftenzahlen für Volksinitiative und Referendum durchsetzten.
Nach vier Jahren konnten die Verhandlungen über ein bilaterales Abkommen zwischen der Schweiz und der EU erfolgreich abgeschlossen werden. Das Paket umfasst auf Gegenseitigkeit beruhende weitgehende Marktöffnungen im Strassengüterverkehr, im Luftverkehr, im Arbeitsmarkt und bei öffentlichen Aufträgen, die gegenseitige Anerkennung von technischen Produktevorschriften, eine teilweise gegenseitige Öffnung der Agrarmärkte sowie die Beteiligung der Schweiz an den EU-Forschungsprogrammen. Zu klären blieb im Verlaufe des Berichtsjahrs eigentlich nur noch der Bereich Strassengüterverkehr und dabei namentlich die maximale Höhe der Transitgebühren für eine Durchfahrt durch die Schweiz. Im Winter einigten sich EU-Verkehrskommissar Neil Kinnock und der Vorsteher des UVEK, Moritz Leuenberger, auf 325 Fr. (ursprünglich hatte die Schweiz 600 Fr. verlangt). Bis zum Herbst gab es insbesondere von seiten Deutschlands noch Widerstand gegen diesen Kompromiss. Mit dem Wahlsieg der SPD war dann aber der Weg für eine endgültige Einigung offen. Am 11. Dezember erklärten Exekutivvertreter der beiden Kontrahenten die Verhandlungen für erfolgreich abgeschlossen. Die nun anschliessende Ratifikation wird allerdings nicht problemlos sein: sowohl das EU-Parlament als die Parlamente der Schweiz und sämtlicher fünfzehn EU-Mitgliedsstaaten müssen den Vertrag gutheissen. In der Schweiz bedarf es dazu höchstwahrscheinlich auch noch einer oder mehrerer Volksabstimmungen (Referendumsdrohungen von Rechtsaussenparteien und aus Umweltschutzkreisen lagen bereits vor). Der Vorort als Vertreter der an einer möglichst umfassenden Liberalisierung der Märkte interessierten Exportwirtschaft intensivierte seine Öffentlichkeitsarbeit zugunsten der Verträge. Das Heikle beim Ratifikationsprozess wird sein, dass die Übereinkunft nur als Ganzes in Kraft treten kann, und ein negativer Volksentscheid zu einem einzelnen Vertragsstück (z.B. Liberalisierung im Personenverkehr) das Gesamtpaket zu Fall bringen würde.
In zwei verkehrspolitischen Volksabstimmungen, deren Ausgang auch die an den bilateralen Verhandlungen beteiligten Vertreter der EU beeindruckte, manifestierten die Stimmberechtigten, dass sie gewillt sind, aktive und auch kostspielige Massnahmen zur Verlagerung des Gütertransports von der Strasse auf die Schiene zu unterstützen. Mit deutlichen Mehrheiten stimmten sie sowohl der Erhebung einer leistungsabhängigen Schwerverkehrssteuer als auch dem Bau- und Finanzierungskonzept für zwei neue Eisenbahnbasistunnels durch den Gotthard und den Lötschberg zu.
Die sich im Vorjahr abzeichnende wirtschaftliche Erholung verstärkte sich im Berichtsjahr. Das Wachstum des realen Bruttoinlandprodukts erhöhte sich von 1,7% auf 2,1%. Diese günstige Entwicklung wirkte sich auch auf den Arbeitsmarkt aus. Die Zahl der Beschäftigten erhöhte sich um 1,3% und diejenige der Arbeitslosen reduzierte sich um rund einen Drittel. Mit einer Arbeitslosenquote von 3,2% zu Jahresende vermochte die Schweiz ihre Spitzenposition im internationalen Vergleich wieder zurückzuerobern. Die lebhaftere Wirtschaftstätigkeit führte jedoch nicht zu höheren Preisen. Die Inflationsrate erreichte mit einem Jahresmittel von 0,0% den tiefsten Stand seit 1958.
Die Staatsverschuldung blieb eines der Hautthemen der Politik, auch wenn, namentlich auf Kantons- und Gemeindeebene, die Sparprogramme zu wirken begannen und die Defizite stark abgebaut werden konnten. Auf Bundesebene einigten sich an einem von Bundesrat Villiger einberufenen sogenannten Runden Tisch die Vertreter der Bundesratsparteien, der Gewerkschaften und der Unternehmerverbände auf konkrete Sparmassnahmen. Obwohl rechtlich nicht bindend, hielt sich die Parlamentsmehrheit bei der Beratung des Voranschlags für 1999 an die dabei formulierten Vorgaben. Auch eine Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger scheint von der Notwendigkeit einer Sanierung der Bundesfinanzen überzeugt zu sein. In einer Volksabstimmung stimmten sie mit einem Ja-Anteil von 71% dem „Haushaltziel 2001“ zu. Diese von der SP und den Gewerkschaften vergeblich bekämpfte Verfassungsbestimmung bildet die Grundlage für den Abbau des Budgetdefizits bis zu diesem Zeitpunkt.
Im Frühjahr trat der amtsälteste Bundesrat, Jean-Pascal Delamuraz, krankheitshalber zurück; ein halbes Jahr später verschied er im Alter von 62 Jahren. Zu seinem Nachfolger wurde der freisinnige Walliser Pascal Couchepin gewählt. Das leidige Problem der Nichtwählbarkeit von geeigneten Kandidaten oder Kandidatinnen wegen der Verfassungsbestimmung, dass nicht mehr als ein Bundesrat aus dem selben Kanton stammen darf, wurde vom Parlament aus der Welt geschafft. Es ersetzte die Kantonsklausel durch die Bestimmung, dass bei der Zusammensetzung der Regierung angemessen auf die Vertretung der geografischen und sprachlichen Regionen Rücksicht zu nehmen sei. Mit der turnusgemässen Wahl von Ruth Dreifuss zur Bundespräsidentin für 1999 stellte die Vereinigte Bundesversammlung zum ersten Mal eine Frau an die Spitze der Landesregierung.
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H.H.