Année politique Suisse 1998 : Grundlagen der Staatsordnung / Politische Grundfragen und Nationalbewusstsein / Grundsatzfragen
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Die Schweiz im 2. Weltkrieg
Die Diskussion um die Haltung der Schweiz und ihrer Wirtschaft während und unmittelbar nach dem 2. Weltkrieg blieb auch im Berichtsjahr rege und spaltete Volk und Generationen. In der ersten Jahreshälfte sorgten Sanktionsdrohungen aus den USA, verbale Angriffe von Vertretern amerikanisch-jüdischer Organisationen auf die Schweiz und auf Mitglieder des Bundesrates [3] und sehr polemische Darstellungen von Aspekten der schweizerischen Vergangenheit (so etwa die vom Simon Wiesenthal-Zentrum in Los Angeles herausgegebenen „Studien“ zur Behandlung der Flüchtlinge in der Schweiz bzw. zur angeblich dominierenden faschistischen Gesinnung der schweizerischen Bevölkerung [4]) weiter für Aufregung. Das Geschehen beruhigte sich merklich, nachdem im August eine sogenannte Globallösung zwischen den beiden schweizerischen Grossbanken und den Klägern und jüdischen Organisationen abgeschlossen wurde, in welcher sich die Banken zur Zahlung von rund 1,3 Mia US$ verpflichteten [5]. Exponenten schweizerischer jüdischer Organisationen protestierten mehrmals gegen die Diffamierungen der Schweiz und auch gegen die Boykottdrohungen US-amerikanischer Staaten und Kommunen gegen die schweizerische Wirtschaft und mussten dafür Kritik von Vertretern internationaler jüdischer Organisationen einstecken [6].
Der im Vorjahr von den Banken eingerichtete und von der übrigen Wirtschaft und der Nationalbank mitfinanzierte Holocaust-Fonds setzte die Auszahlungen an bedürftige Opfer des Naziterrors fort. Neben jüdischen Personen wurden auch Roma und Homosexuelle berücksichtigt. Schwerpunktregion blieb das ehemals kommunistische Ost- und Mitteleuropa. Nach langen, nicht von der Schweiz verursachten Verzögerungen war im Dezember der Verteilplan für die gut 80 Mio Fr. für die rund 60 000 Holocaust-Überlebenden in Israel erstellt. Gegen Jahresende konkretisierte sich auch die Überweisung einer ersten Tranche von 47 Mio Fr. zugunsten von in den USA wohnenden Opfern [7].
Für eine ausführliche Darstellung der den Finanzplatz betreffenden Aspekte siehe unten, Teil I, 4b (Banken) [8].
Der Ständerat befasste sich noch einmal mit dem vom Nationalrat im Vorjahr beschlossenen besonderen Schutz von Personen, welche vor der Historikerkommission aussagen. Er hielt gegen den Widerstand der Linken an seiner Meinung fest, dass Auskunftspersonen durch den Bundesbeschluss, welcher die Kommission mandatiert hatte, ausreichend geschützt seien, und lehnte es ab, auf die Vorlage der grossen Kammer einzutreten. Damit wurde das Geschäft aus der Traktandenliste gestrichen [9].
Ende Mai veröffentlichte die Kommission Bergier einen Zwischenbericht zum Goldhandel der Schweiz während des 2. Weltkriegs. Er bestätigte die wichtige Rolle der Schweizerischen Nationalbank bei den Goldverkäufen Deutschlands, enthielt aber keine aufsehenerregenden neuen Erkenntnisse. Eine Präzisierung brachte der Bericht in bezug auf den Umfang der von der Deutschen Reichsbank gekauften Goldbarren, die nachweislich, aber ohne dass die SNB dies damals erkennen konnte, von Opfern des Holocaust stammten. Deren Wert betrug 582 000 Fr. [10]. In den amerikanischen Medien löste dieser Bericht kaum ein Echo aus. Aber unter anderem mit Verweis auf diesen Bericht reichten amerikanische Anwälte beim Bundesbezirksgericht in Washington eine Sammelklage gegen die Schweizerische Nationalbank ein. Die Nationalbank ihrerseits stritt die im Bericht erwähnten Handlungen nicht ab, kritisierte jedoch die Bergier-Kommission, weil sie es unterlassen habe, neben der historischen und politischen Analyse auch eine ökonomische vorzunehmen. Diese hätte unter anderem berücksichtigen müssen, dass der Spielraum der damaligen SNB-Leitung auch durch die Blockierung ihrer Guthaben in den USA eingeengt worden sei [11].
Die SP nahm diesen Bericht zum Anlass, die Politik der damaligen Nationalbank als Hehlerei zu bezeichnen. In einer Interpellation forderte ihre Nationalratsfraktion den Bundesrat auf, ihr in dieser Interpretation zu folgen und sich dafür einzusetzen, dass die Nationalbank sämtliches damals von der Deutschen Reichsbank gekaufte Gold an die ursprünglichen Besitzer (das sind vor allem die Nationalbanken der von Deutschland besetzten Staaten) zurückerstattet. Der Bundesrat lehnte eine solche Interpretation ab und erklärte einmal mehr, dass alle Forderungen in diesem Zusammenhang mit dem Washingtoner Abkommen von 1946, bei dem die Alliierten volle Kenntnis über die Goldtransaktionen verfügt hätten, beglichen worden seien. Mit dem Argument, das Zustandekommen der Solidaritätsstiftung (siehe unten) nicht gefährden zu wollen, versorgte die SP ihre Forderung wieder in der Schublade [12].
Im Juni veröffentlichten die amerikanischen Behörden einen zweiten, nach dem Unterstaatssekretär Eizenstat benannten Bericht über die Politik der Neutralen während des 2. Weltkriegs. Im Gegensatz zu dem 1997 veröffentlichten ersten Bericht, war nun nicht mehr die Schweiz alleinige Angeklagte. Auch den anderen Staaten (Schweden, Portugal, Spanien, Argentinien und Türkei) wurde eine wichtige Rolle als Handelspartner Deutschlands nachgewiesen. In seinem Vorwort gelangte Eizenstat zu wesentlich differenzierteren Schlüssen als im ersten Bericht. So anerkannte er, dass die Schweiz (zusammen mit Schweden) effektiv von Deutschland militärisch bedroht und deshalb auch zu einem gewissen Mass von Kollaboration gezwungen gewesen sei. Als Goldhandelsplatz sei sie zentral gewesen, in bezug auf die Lieferung von kriegswichtigen Rohstoffen und Produkten wären jedoch die Beiträge der anderen europäischen Neutralen viel gewichtiger gewesen [13].
Anfangs Dezember fand in Washington eine internationale Konferenz über Kulturgüter statt, welche in der Zeit des 2. Weltkriegs jüdischen Opfern geraubt und auf den internationalen Kunstmärkten weiterverkauft worden waren (sogenannte Raubkunst). Obwohl auch schweizerische Kunsthändler in diesen Geschäften aktiv gewesen waren, stand vor allem Frankreich im Zentrum der Kritik und von der Schweiz war eher am Rande die Rede. Dabei war die Tonart der Referate im Vergleich zu früheren ähnlichen Veranstaltungen um die Goldgeschäfte sehr moderat. Nicht Forderungen in Milliardenhöhe und Polemiken standen im Mittelpunkt, sondern Wege und Mittel zur Auffindung von Kunstwerken und deren Restituierung. Die vom Bundesamt für Kultur in Auftrag gegebene Studie über Raubkunst in der Schweiz wurde gegen Jahresende präsentiert und bestätigte den bereits bekannten Sachverhalt, dass in der Zeit um den 2. Weltkrieg die Schweiz eine der Drehscheiben des Handels mit Raubkunst gewesen war. Sie vermochte jedoch die im Frühjahr in der Presse angestellten Spekulationen, dass sich heute mehrere Hundert Raubkunstwerke in der Schweiz befinden würden, nicht zu erhärten [14].
Der Neuenburger Maurice Bavaud hatte 1938 ein Attentat auf Hitler geplant, das er allerdings nicht durchführte. Kurz danach wurde er in Deutschland verhaftet und 1941, nachdem er seine Anschlagpläne gestanden hatte, hingerichtet. Im Parlament forderte nun der Sozialdemokrat Rechsteiner (SG) den Bundesrat auf, Bavaud nachträglich als Helden zu rehabilitieren und das Verhalten der Schweizer Behörden, die sich seiner Ansicht nach zuwenig für den Angeklagten eingesetzt hatten, zu kritisieren. Der Bundesrat kam dieser Aufforderung teilweise nach und stellte fest, dass sich die damaligen Behörden ungenügend für Bavaud eingesetzt hätten, und dass dieser für seinen „leider vergeblichen“ Versuch, Hitler umzubringen „Anerkennung und einen Platz in unserem Gedächtnis“ verdiene [15].
 
[3] So etwa die von einem Vizepräsidenten des Jüdischen Weltkongresses ausgesprochene Gleichsetzung BR Cottis mit dem früheren Wehrmachts-Offizier und österreichischen Bundespräsidenten Waldheim (Presse vom 3.1.98).3
[4] Flüchtlinge: Presse vom 7.1. und 15.1.98; SN, 14.1.98; BaZ, 24.1.98. Die „Studie“ behauptete, die Schweiz hätte die jüdischen Flüchtlinge als Zwangsarbeiter in Konzentrationslager eingesperrt. Es erstaunte nicht, dass auch in diesem Zusammenhang Entschädigungsforderungen erhoben wurden. Vgl. auch die Stellungnahme des BR in Amtl. Bull. NR, 1998, S. 1147 ff. Faschistische Gesinnung: NZZ, 10.6.98; BaZ, 11.6.98.4
[5] Zu den Boykottdrohungen und der Globallösung siehe unten, Teil I, 4b (Banken).5
[6] NLZ, 3.8.98; BaZ, 15.8.98 und 24 Heures, 4.11.98 (Sigi Feigel); SGT, 15.8.98 (Michael Kohn).6
[7] SGT, 22.1.98 (Roma); NZZ, 18.8., 19.8. und 16.12.98 (USA) und 7.12.98 (Israel). Vgl. auch NZZ, 23.12.98 und SPJ 1997, S. 124 f.7
[8] Siehe auch dort für weitere Belege und Quellen.8
[9] Amtl. Bull. StR, 1998, S. 192 f. Siehe SPJ 1997, S. 16.9
[10] Presse vom 26.5.98.10
[11] Echo: TA, 27.5.98. Klage: Presse vom 1.7.98. SNB: NZZ, 19.1.98; Bund, 31.7.98. Vgl. auch die ähnliche Kritik des Lausanner Wirtschaftsprofessors Lambelet in NZZ, 31.7. und 9.12.98 sowie die Replik in NZZ, 10.10.98. Siehe auch die Kritik des Historikers Michel Fior an der Optik der Kommission in TA, 30.5. und 10.6.98 (Replik). Siehe zur Kritik an der Arbeitsweise der Kommission auch Amtl. Bull. NR, 1998, S. 1542 ff.11
[12] Amtl. Bull. NR, 1998, S. 2248 ff. sowie 2905 (Antwort auf eine Interpellation Baumann, svp, TG); Bund, 29.8. und 18.12.98. In gleichem Sinn wie der BR äusserte sich auch die Rechtskommission des NR bei der Behandlung einer Petition von Eduard Wahl (Amtl. Bull. NR, 1998, S. 2164 ff.).12
[13] Presse vom 3.6. und 4.6.98. Vgl. SPJ 1997, S. 20.13
[14] Konferenz: Presse vom 2.12. und 3.12.98; BaZ, 5.12.98. Untersuchung: Lit. Buomberger; Bund und NZZ, 12.12.98; vgl. auch unten, Teil I, 8b (Kulturpolitik).14
[15] Amtl. Bull. NR, 1998, S. 985 f.; Presse vom 2.4.98; NZZ, 7.11. (Klaus Urner) und 9.11.98.15