Année politique Suisse 1998 : Grundlagen der Staatsordnung / Institutionen und Volksrechte / Parlament
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Immunität
Das Parlament hatte sich mit einem Begehren auf Immunitätsaufhebung des Bezirksgerichts Zofingen (AG) zu befassen, welches eine Ehrverletzungsklage der Umweltschutzorganisation Greenpeace gegen Nationalrat Giezendanner (svp, AG) zu beurteilen hat. Der Angeklagte hatte diese Organisation im Zusammenhang mit unbewilligten Demonstrationen und Strassensperren in Faxschreiben an Medienredaktionen als „Terroristenorganisation“ bezeichnet. Obwohl Giezendanner diesen Prozess führen wollte und deshalb für Aufhebung seiner Immunität plädierte, beschloss der Nationalrat auf Antrag seiner Rechtskommission, diese nicht aufzuheben. Begründet wurde dieser Entscheid damit, dass es sich hier eindeutig um eine politische Auseinandersetzung handle und deshalb, namentlich bei strafrechtlich eher unbedeutenden Fällen, die relative Immunität gelte. Der Ständerat schloss sich diesem Entscheid an [51].
Anders entschied der Nationalrat bei der Aufhebung der Immunität von Nationalrat Keller (sd, BL). Die Bezirksanwaltschaft Zürich hatte ein entsprechendes Gesuch gestellt, nachdem Keller wegen Verletzung des Rassendiskriminierungsverbots angezeigt worden war. Zur Last gelegt wurde ihm ein Boykottaufruf gegen „amerikanische und jüdische Waren, Restaurants und Ferienangebote“. Er hatte diesen Aufruf als Reaktion auf Boykottbeschlüsse amerikanischer Staaten und Gemeinden gegen schweizerische Unternehmen im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung um Bankguthaben von Holocaustopfern an die Redaktionen verschiedener Schweizer Medien zwecks Veröffentlichung geschickt. Da Keller seine Pressemitteilung als Nationalrat und Präsident der Schweizer Demokraten unterzeichnet hatte, war die Einstufung als Fall der relativen Immunität unbestritten. Eine Kommissionsmehrheit sprach sich für deren Aufhebung aus, da der Tatbestand der Rassendiskriminierung mit grosser Wahrscheinlichkeit erfüllt sei und – gerade angesichts der besonderen Verwerflichkeit von Antisemitismus – ein grosses öffentliches Interesse an einem Gerichtsurteil bestehe. Eine Minderheit der Kommission lehnte eine Immunitätsaufhebung ab. Sie verurteilte zwar den Aufruf Kellers ebenfalls, zweifelte aber daran, dass das für eine Immunitätsaufhebung geforderte Kriterium einer wahrscheinlichen Verurteilung erfüllt sei, da der Aufruf nicht gegen Personen, sondern gegen Firmen gerichtet sei und zudem vom Gericht die besondere Situation (Reaktion auf Boykottmassnahmen) berücksichtigt werden müsste. Mit 94 gegen 45 vor allem von der SVP und der FP kommenden Stimmen sprach sich der Rat für die Immunitätsaufhebung aus [52].
 
[51] Amtl. Bull. NR, 1998, S. 718 ff.; Amtl. Bull. StR, 1998, S. 579 ff.51
[52] Amtl. Bull. NR, 1998, S. 2760 ff.; LT und TA, 10.11.98; TA, 18.12.98.52