Année politique Suisse 1998 : Grundlagen der Staatsordnung / Institutionen und Volksrechte / Gerichte
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Justizreform
Der Ständerat machte sich in der Frühjahrssession an die Beratung des Teils C der Verfassungstotalrevision, der Reform der Justiz. Im wesentlichen ging es dabei um Verfassungsgrundlagen für drei Ziele: die Stärkung der Leistungsfähigkeit des Bundesgerichts durch die Einführung von Vorinstanzen und Zugangsbeschränkungen, der Ausbau des Rechtsschutzes durch eine allgemeine Rechtsweggarantie und durch die Einrichtung einer eingeschränkten Verfassungsgerichtsbarkeit und schliesslich die Vereinheitlichung des kantonalen Zivil- und Strafprozessrechts. Die Vereinheitlichung des Strafprozessrechts, die ja auch von verschiedenen Standesinitiativen gefordert worden war, blieb unbestritten. Ausgiebig debattiert wurde hingegen über die von Bundesrat und Kommission vorgeschlagene Verfassungsgerichtsbarkeit, welche dem Bundesgericht erlauben soll, im konkreten Anwendungsfall zu überprüfen, ob ein Bundesgesetz oder ein allgemeinverbindlicher Bundesbeschluss mit den verfassungsmässigen Grundrechten und dem Völkerrecht übereinstimmt resp. die verfassungsmässigen Rechte der Kantone nicht verletzt. Bruno Frick (cvp, SZ) lehnte im Namen der Kommissionsminderheit diesen Vorschlag ab. Damit würde das Gericht zur obersten politischen Instanz gemacht, was dem schweizerischen Demokratieverständnis, wo dem Volk diese Funktion zukommt, widerspräche. Für die Befürworter waren diese Befürchtungen, die namentlich auch von Carlo Schmid (cvp, AI) vorgetragen wurden, übertrieben, da ja die Verfassungsnormen, deren Einhaltung das Bundesgericht kontrollieren soll, weiterhin vom Volk bestimmt würden und zudem das Bundesgericht diese Normenkontrolle bei kantonalen Gesetzen bereits seit 1874 ausübt. Mit einer relativ knappen Mehrheit (19:14) stimmte der Rat dem Ausbau der Verfassungsgerichtsbarkeit zu.
In der ebenfalls heftig umstrittenen Frage der Einführung von Zugangsbeschränkungen hatte die Kommission anfangs Jahr eine Kompromissformel ausgearbeitet. Diese sieht vor, dass der Zugang zum Bundesgericht grundsätzlich garantiert ist, auf dem Gesetzesweg für „Streitigkeiten, die keine Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung aufwerfen“ aber besondere Zugangsvoraussetzungen geschaffen werden können. Mit dieser Formel konnte sich auch der Sozialdemokrat Aeby (FR) einverstanden erklären. In der Gesamtabstimmung nahm der Ständerat das Reformpaket Justiz mit 26:1 Stimmen an [54].
Der Nationalrat befasste sich in der Sommersession mit dem Geschäft. In der Eintretensdebatte formulierten die Vertreter der Fraktionen der SP und der Grünen zwar heftige Kritik am Kommissionsentwurf wegen den vorgesehenen Zugangsbeschränkungen, verzichteten aber auf einen Nichteintretens- oder Rückweisungsantrag. Die Vereinheitlichung der kantonalen Prozessordnungen wurde von den Liberalen Leuba (NE) und Sandoz (VD) vergeblich aus grundsätzlich föderalistischen Gründen bekämpft. Ein von der SP und den Grünen unterstützter Antrag Thür (gp, AG), der im Sinne der Rechtsvereinheitlichung eine besondere Instanz am Bundesgericht schaffen wollte, welche in den Kantonen zu beurteilende Fälle von grundsätzlicher Bedeutung an sich ziehen könnte, wurde mit 58:48 Stimmen abgelehnt. Die Einführung einer beschränkten Verfassungsgerichtsbarkeit wurde von einer quer durch das politische Spektrum verlaufenden Front (Mehrheit der SP- und SVP-Fraktionen, Liberale, Schweizer Demokraten sowie eine Minderheit der FDP-Fraktion) bekämpft, da sich das bisherige System bewährt habe und die Neuerung mit der schweizerischen direktdemokratischen Tradition im Widerspruch stehe. Diese breite Opposition setzte mit 87:39 Stimmen durch.
Die SP, aber auch die Grünen und die SD lehnten die vorgeschlagenen Zugangsbeschränkungen auch in der milderen Variante der Nationalratskommission ab (Möglichkeit der Einführung von Restriktionen für Fälle von untergeordneter Bedeutung oder offensichtlicher Unbegründetheit auf dem Gesetzesweg). Gross (sp, TG) reichte einen neuen Kompromissantrag ein, der die Bedingungen für eventuelle Zugangsbeschränkungen in der Verfassung detailliert festlegen wollte, und der für offenkundig unbegründete oder aussichtslose Fälle nicht eine schlichte Abweisung, sondern die Beurteilung der Annahme durch ein einfaches und schnelles Verfahren vorsah. Dieser von der SP unterstützte Antrag unterlag in einer Eventualabstimmung mit 62:54 Stimmen gegenüber dem Ständeratsbeschluss. Diese Variante, welche die Bedingungen für Zulassungsbeschränkungen für nicht grundsätzliche Fälle auf dem Gesetzesweg festlegen will, konnte sich aber in der definitiven Abstimmung gegenüber dem Kommissionsvorschlag nicht durchsetzen. In der Gesamtabstimmung, welche mit 59:48 relativ knapp ausfiel, votierten die SP, die Grünen und die SD geschlossen gegen die Justizreform [55].
In der Differenzbereinigung hielt der Ständerat auf Antrag seiner Kommission mit einer klareren Mehrheit (26:11) als in der Erstberatung an der Einführung einer beschränkten Verfassungsgerichtsbarkeit fest. Kommissionssprecher Rhinow (fdp, BL) wies darauf hin, dass die Verletzung von Grundrechten durch Bundesgesetze (Ausnahme Wirtschaftsfreiheit und Eigentumsgarantie, welche in der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) nicht enthalten sind) bereits heute bei den Instanzen der EMRK in Strassburg eingeklagt werden können. Bei den Zugangsbeschränkungen hielt die kleine Kammer ebenfalls an ihrem Entscheid fest [56]. Die Nationalratskommission beschloss, dem Plenum, das sich im Berichtsjahr nicht mehr mit dem Geschäft befasste, Festhalten an der Streichung der Verfassungsgerichtsbarkeit zu beantragen [57].
Als Vorgriff auf die mit der Verfassungsrevision angestrebte Entlastung des Bundesgerichts hatte Bundesrat Koller im Herbst des Vorjahres einen Vorentwurf für ein Ausführungsgesetz in die Vernehmlassung gegeben. Während sich die bürgerlichen Regierungsparteien weitgehend mit dem Vorschlag einverstanden erklärten, lehnten der Mieterverband und die Gewerkschaften die vorgesehenen Zugangsbeschränkungen rundweg ab [58].
Bei einer Ersatzwahl für das Bundesgericht durch die Vereinigte Bundesversammlung kam es zu einer Premiere. Mit Thomas Merkli wurde erstmals ein Angehöriger der Grünen Partei zum Bundesrichter gewählt. Unterstützt von den Fraktionen der GP, der SP, der LdU/EVP, der SVP und der SD/Lega setzte er sich knapp gegen einen freisinnigen Konkurrenten durch [59].
 
[54] Amtl. Bull. StR, 1998, S. 253 ff. Siehe auch SPJ 1997, S. 24 und 47. Zur Vereinheitlichung der Prozessordnungen siehe auch oben, Teil I, 1b (Strafrecht).54
[55] Amtl. Bull. NR, 1998, S. 1446 ff.55
[56] Amtl. Bull. StR, 1998, S. 1017 ff.56
[57] NZZ, 14.11.98.57
[58] AZ, 5.2.98; NLZ, 5.11.98. Vgl. SPJ 1997, S. 47.58
[59] Amtl. Bull. NR, 1998, S. 3013; TA, 4.12. und 17.12.98.59