Année politique Suisse 1998 : Sozialpolitik / Bevölkerung und Arbeit / Gesamtarbeitsverträge
Als Erstrat behandelte der
Ständerat eine mögliche
Verankerung des Streikrechts im Grundrechtskatalog der nachgeführten
Bundesverfassung (Art. 28 Abs. 3). Der Bundesrat hatte vorgeschlagen, das Recht auf Streik und Aussperrung als Derivate der Koalitionsfreiheit zu gewährleisten, aber nur wenn sie die Arbeitsbeziehungen betreffen und keinen Verpflichtungen zur Wahrung des Arbeitsfriedens und zum Führen von Schlichtungsverhandlungen entgegenstehen, womit politisch motivierte Streiks weiterhin keinen Verfassungsschutz geniessen sollten. Er sah auch gesetzliche Ausnahmen des Streikrechts, etwa für Beamte, vor (Abs. 4). Die Mehrheit in der kleinen Kammer hielt dem entgegen, dass dieses Recht zwar durch Leitentscheide des Bundesgerichtes gewährleistet sei, dass ihm aber kein Grundrechtscharakter zukomme; ein Verfassungsrecht auf Streik bedeute einen Bruch mit der traditionellen Werthaltung in der Schweiz und mache Kampfmassnahmen gleichsam salonfähig, was die nach wie vor bestehende Sozialpartnerschaft gefährde. Die Minderheit replizierte erfolglos, das Streikrecht sei bereits heute Bestandteil der geltenden Rechtsordnung, weshalb es durchaus dem Nachführungsauftrag entspreche, dies nun verfassungsrechtlich zu verankern. Der Rat
lehnte die Aufnahme des Streikrechts mit 24 zu 16 Stimmen
ab [47].
Dem
Nationalrat lag ebenfalls ein rechtsbürgerlicher Streichungsantrag vor, der mit 91 zu 67 Stimmen verworfen wurde. Ein weiterer Antrag, der weitgehend die gleichen Abgeordneten wie der Streichungsantrag auf sich vereinigte, wollte das Recht auf Streik nicht gewährleisten, sondern nur erklären, Streiks seien unter den im Bundesratsentwurf genannten Bedingungen zulässig. Diese Verwässerung des Grundsatzes passte der Linken nicht, weshalb sie einen Antrag Rechsteiner (sp, SG) und einen Eventualantrag Rennwald (sp, JU) einreichte, welche – zumindest auf Verfassungsebene – das Streikrecht ohne Einschränkungen festschreiben wollten; gemäss Rennwald sollte allenfalls der Gesetzgeber jene öffentlichen Dienste bezeichnen, in denen das Streikrecht eingeschränkt ist. Zu Beginn der Eintretensdebatte erklärte Jutzet (sp, FR) im Namen seiner Fraktion, für die Sozialdemokraten sei die Verankerung des Streikrechts “eine Bedingung sine qua non”; ohne Streikrecht könne die SP die neue Verfassung nicht akzeptieren. Nach mehreren Eventualabstimmungen, in denen sowohl die Anträge der Linken wie der Rechten abgelehnt wurden, setzte sich schliesslich die
Zustimmung zum Bundesrat durch
[48].
Im
Ständerat veränderten sich in der Folge die Mehrheiten zugunsten einer Aufnahme des Streikrechts, allerdings
in abgeschwächter Form. Eine Minderheit, zusammengesetzt aus einzelnen Abgeordneten der SVP, FDP und CVP verlangte nach wie vor Streichung, unterlag aber mit 23 zu 15 Stimmen. Eine Zustimmung zum Bundesrat, wie sie die beiden SP-Parlamentarier Aeby (FR) und Gentil (JU) beantragten, wurde allerdings mit 32 zu 4 Stimmen noch klarer zurückgewiesen. Schliesslich obsiegte ein Antrag Inderkum (cvp, UR), wonach Streik und Aussperrung zulässig sind (also nicht mehr “gewährleistet” wie in der bundesrätlichen Fassung), wenn sie Arbeitsbeziehungen betreffen, verhältnismässig sind und keinen Verpflichtungen entgegenstehen, den Arbeitsfrieden zu wahren oder Schlichtungsverhandlungen zu führen. Keine Aufnahme fand der von der Kommission eingebrachte Zusatz, Streiks und Aussperrungen müssten von Arbeitnehmer- und Arbeitgeberorganisationen getragen werden
[49].
In der zweiten Lesung des
Nationalrates verlangte eine rechtsbürgerliche Minderheit unter Fischer (svp, AG) erneut Streichen, unterlag aber 107 zu 50 Stimmen noch deutlicher als in der ersten Abstimmung. Gegenüber der Mehrheit der Kommission, welche dem Ständerat zustimmen wollte, setzte sich ein Antrag Loretan (cvp, VS) durch, der zwar der kleinen Kammer folgen (
Zulässigkeit anstatt Gewährleistung), den Begriff der Verhältnismässigkeit aber nicht übernehmen wollte, da dies ohnehin eine Maxime öffentlichen Handelns und in Abs. 2 von Art. 28 bereits enthalten sei, welcher stipuliert, dass Arbeitsstreitigkeiten nach Möglichkeit durch Verhandlung beizulegen sind. Ohne den Begriff
“Schicksalsartikel” überstrapazieren zu wollen, wies er doch darauf hin, dass eine allzu starre Haltung gegenüber der linken Minderheit im Parlament zu einem Scheitern der gesamten Revision führen könnte. Die Ratslinke, welche erneut beantragt hatte, dem Bundesrat zuzustimmen resp. das Recht auf Streik noch pointierter zu fassen (Einzelantrag Rennwald, sp, JU) verstand den Wink und zog ihre Anträge zurück, um nicht das Streikrecht generell zu gefährden, worauf der Antrag Loretan mit 96 zu 62 Stimmen angenommen wurde
[50]. Nach diesen deutlichen Mehrheitsverhältnissen in der grossen Kammer
stimmte der Ständerat der letzten Version des Nationalrates
zu, unterstrich aber noch einmal deutlich, dass sich damit nichts an der bestehenden Rechtslage, wie sie das Bundesgericht in mehreren Leitentscheiden definiert hat, ändert. Politische und sogenannte “wilde” Streiks seien auch in Zukunft verboten
[51].
Aufgrund der Durchsicht der Medienmeldungen konnte für 1998
keine Arbeitsniederlegung ausgemacht werden, welche den Kriterien des BWA und der ILO (Streik = Arbeitsniederlegung während mindestens einem Arbeitstag) entspricht
[52].
[47]
Amtl. Bull. StR, 1998, S. 44 ff. und 48 f. Ein (in Rechtskreisen umstrittenes) Urteil des Zürcher Obergerichts bezeichnete aufgrund der fehlenden Verfassungsgrundlage einen Warnstreik als unrechtmässig und lieferte damit Wasser auf die Mühlen der Befürworter: Presse vom 19.2. und 20.2.98;
WoZ, 26.2.98;
TA, 6.3.98.47
[48]
Amtl. Bull. NR, 1998, S. 873 ff.48
[49]
Amtl. Bull. StR, 1998, S. 694 ff.49
[50]
Amtl. Bull. NR, 1998, S. 1774 ff.50
[51]
Amtl. Bull. StR, 1998, S. 1105 f. “Wilde” Streiks sind solche, die gegen Gesamtarbeitsverträge verstossen; ein “politischer” Streik war der “Frauenstreik” von 1991. Zu den Auswirkungen der Aufnahme des Streikrechts auf eine allfällige Ratifizierung der Europäischen Sozialcharta siehe unten, Teil I, 7c (Grundsatzfragen).51
[52] Für die Zahlen des BWA zu den Arbeitskonflikten 1997 siehe
Die Volkswirtschaft, 1998, Nr. 11, S. 56-57.52
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