Année politique Suisse 1998 : Sozialpolitik / Gesundheit, Sozialhilfe, Sport / Gesundheitspolitik
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Fortpflanzungsmedizin
In der Sommersession diskutierte der Nationalrat die 1994 eingereichte Volksinitiative “für eine menschenwürdige Fortpflanzung” und den bundesrätlichen Gegenvorschlag, der die aufgeworfenen Fragen auf dem Gesetzesweg regeln will. Wie bereits im Ständerat hatte die sehr restriktive Volksinitiative keine Chance; sie wurde mit 117 zu 24 Stimmen deutlich verworfen. In der Eintretetensdebatte zum neuen Gesetz wurden mehrere Rückweisungsanträge an den Bundesrat gestellt. Die SP-Fraktion wollte diesen an den Auftrag koppeln, das Gesetz zu überarbeiten mit dem Ziel, jegliche eugenische Selektion bei der Anwendung der Fortpflanzungstechniken zu verhindern. Sie wurde unterstützt von der EVP und den Grünen, für die Hollenstein (SG) einen Antrag stellte, welcher einen direkten Gegenvorschlag auf Verfassungsstufe verlangte, der die Zeugung ausserhalb des Körpers der Frau verbietet, die Verwendung von Keimzellen Dritter zur künstlichen Zeugung aber zulässt. Simon (cvp, VD) regte an, anstelle der ethisch nur sehr schwer zu beherrschenden Methoden sollte primär auf sozialverträgliche Lösungen, z.B. eine erleichterte Adoption gesetzt werden. Für Sandoz (lp, VD) schliesslich war die gesamte Vorlage zu wenig seriös vorbereitet, weshalb sie deren Überarbeitung vor allem unter juristischen Aspekten für angezeigt hielt. Für die Befürworter aus FDP, CVP, SVP und LP war das Gesetz aber massvoll und zeitgemäss, da es die Interessen des Kindes berücksichtigt, Missbräuche ausreichend verhindert und eine einheitliche Regelung für die ganze Schweiz bringt. Die Rückweisungsanträge wurden allesamt abgelehnt [40].
Gleich zu Beginn der Detailbehandlung beantragte der Basler Vertreter der Chemieindustrie, Randegger (fdp) im Einklang mit dem Ständerat, neben der Samen- auch die Eispende zuzulassen, namentlich für Frauen, die in einer In-vitro-Fertilisations-Behandlung (IVF) stehen, da dabei pro Zyklus oft mehr Eizellen produziert werden, als der Frau eingepflanzt werden können. Als Begründung wurde die Gleichstellung der Geschlechter ins Feld geführt. Die Frage einer möglichen Diskriminierung der weiblichen Bevölkerung wurde für einmal mit parteipolitisch umgekehrten Vorzeichen geführt. Bürgerliche Abgeordnete setzten sich für die Eispende ein, da eine ungleiche Behandlung für die betroffenen Frauen unverständlich wäre. Vertreterinnen der SP und CVP betonten demgegenüber, hier komme eine Gleichstellungstheorie aus rein biologischer Sicht zum Ausdruck, was dem Wesen der Mutterschaft widerspreche, da bei einer Eispende zwei Frauen Anteil am Entstehen eines Kindes hätten; es gehe nicht an, das materiell begründete Interesse der experimentellen Forschung an weiblichen Eizellen hier gewissermassen zu legitimieren. Bundesrat Koller betonte, dass der eigentliche Grund für das beantragte Verbot der Eizellenspende das Kindeswohl sei. Das ethische Problem der Zweiheit der genetischen und der biologischen Mutter, welches einen so entstandenen Menschen psychisch schwer belasten könnte, werde bei einem Verbot zugunsten des Kindes gelöst; mit einer Diskriminierung der Frau habe dies nichts zu tun. Mit 102 zu 8 Stimmen folgte das Plenum der Kommissionsmehrheit und dem Bundesrat und lehnte damit die Eispende ab.
Eine weitere Differenz schuf der Nationalrat bei der Präimplantationsdiagnostik (PID). Eine Minderheit um Egerszegi (fdp, AG) meinte zwar, es sei nicht einzusehen, weshalb die PID verboten, die pränatale Diagnostik aber erlaubt sei. Der Rat zeigte sich aber der gegenteiligen Begründung von Weber (sp, AG) zugänglicher, welche die Meinung vertrat, die PID stelle ein Einfallstor zur Eugenik dar, weshalb diese Methode unabsehbare gesamtgesellschaftliche Folgen habe. Sie wurde unterstützt von Grossenbacher (cvp, SO), die darauf hinwies, dass sich auch die Behindertenorganisationen dagegen ausgesprochen hätten; man dürfe nicht eine Grenze zwischen lebenswertem und -unwertem Leben ziehen. Auch Justizminister Koller verteidigte das Verbot, da das Leben im Reagenzglas äusserst verletzlich und damit besonders schutzbedürftig sei. Bei der Pränataldiagnostik fälle die Frau einen ganzheitlichen Entscheid, der auch zugunsten des Lebens ausfallen könne; bei der Präimplantationsdiagnostik befürchte er dagegen eine Automatik, nach der defektes Leben einfach vernichtet werde. Mit 72 zu 63 Stimmen wurde die Präimplantationsdiagnostik verworfen.
Widmer (sp, LU) forderte mit einer weiteren Minderheit die gesetzliche Verankerung eines Forschungsverbotes an menschlichen Embryonen. Er anerkannte, dass dieses Verbot aufgrund des Verfassungsartikels bereits besteht, wollte aber eine explizite Erwähnung im Gesetz, weil neuerdings zwischen therapeutischer und nicht therapeutischer Forschung unterschieden werde. Die Sprecherin der Mehrheit meinte, mit dem Verbot der Keimbahntherapie sei bereits auf Verfassungsstufe ein Riegel geschoben, musste aber zugeben, dass die Abgrenzung zwischen erlaubter und unzulässiger Forschung schwierig werden könnte. Bundesrat Koller verwies darauf, dass neben den Eingriffen in die menschliche Keimbahn auch das Klonen sowie die Chimären- und Hybridenbildung ohnehin verboten und Missbräuche damit auszuschliessen seien. Der Antrag wurde mit 69 zu 57 Stimmen knapp abgelehnt [41].
Auf Antrag seiner Kommission – wenn auch gegen starken freisinnig-liberalen Widerstand – schloss sich der Ständerat mit 24 zu 13 Stimmen bei der Eispende und mit 20 zu 18 Stimmen bei der Präimplantationsdiagnostik der restriktiveren Linie des Nationalrates an. Nach der Beseitigung dieser beiden letzten wesentlichen Differenzen konnte das Gesetz definitiv bereinigt und verabschiedet werden. Nach einem Quiproquo, das in einer ersten Abstimmung zur Ablehnung der Vorlage führte, nahm der Nationalrat diese mit 132 zu 18 Stimmen an. Das mässige Resultat im Ständerat (26:13 Stimmen) wurde als Zeichen der Enttäuschung von FDP und LP über das Entgegenkommen an die grosse Kammer gewertet [42].
 
[40] Amtl. Bull. NR, 1998, S. 1297 ff., 1310 ff. und 1317 ff. Der Minderheitsantrag der SP unterlag mit 94:64 Stimmen, jener von Hollenstein mit 107:54, jener von Simon mit 101:34 und jener von Sandoz mit 114:40 Stimmen. Vgl. SPJ 1997, S. 250 f.
[41] Amtl. Bull. NR, 1998, S. 1324 ff., 1401 ff. und 1421 ff. Weitere Elemente der Vorlage (Verbot der Embryonenspende, der Leihmutterschaft und der Herstellung von Embryonen zu Forschungszwecken sowie Zulassung von Konkubinatspaaren zur Samenspende Dritter) gaben, wie schon im StR, kaum Anlass zu Diskussionen.
[42] Amtl. Bull. StR, 1998, S. 937 ff. und 1403; Amtl. Bull. NR, 1998, S. 2444 f. und 2555 f. Die FDP-Fraktion der Bundesversammlung überlegte sich, das Referendum gegen das Gesetz zu ergreifen, da die Chance für eine moderne, ethisch vertretbare Wissenschaftspolitik und -entwicklung durch eine “unrühmliche wissenschafts- und frauenfeindliche Koalition aus CVP und SP” vertan worden sei (NZZ, 23.11.98).