Année politique Suisse 1998 : Sozialpolitik / Gesundheit, Sozialhilfe, Sport / Gesundheitspolitik
Trotz öffentlich geäusserter Missbilligung durch den Preisüberwacher, der am ursprünglichen Konzept festhalten wollte, einigten sich das BSV und die Pharmabranche auf einen Kompromiss in der
zweiten Preissenkungsrunde. Demnach wird für die Festsetzung der Preise der älteren Medikamente nicht der Ladenpreis in den vergleichbaren europäischen Ländern herangezogen, sondern der Fabrikabgabepreis. Damit bleiben diese Heilmittel in der Schweiz weiterhin um rund einen Drittel teurer als in den Referenzstaaten Deutschland, Dänemark und Niederlande. Im Gegenzug verpflichteten sich die Hersteller und Importeure, die von ihnen zwischen 1996 und 1998 eingereichten Beschwerden zurückzuziehen
[16]. Auf den 15. September läutete das BSV die
dritte Preissenkungsrunde ein und verfügte eine Verbilligung von bis zu 70% für 113 weitere ältere Medikamente; in 20 Fällen wurde von den Produzenten erneut Beschwerde eingereicht
[17].
Im Gleichklang mit der im Vorjahr vom Detailhandelisten Denner eingereichten Volksinitiative “für tiefere Arzneimittelpreise” setzte sich der Preisüberwacher nicht nur für eine Senkung der Verkaufspreise in der Schweiz ein, sondern auch dafür, dass alle in den Nachbarländern zugelassenen Medikamente in der Schweiz ohne zusätzliche Bewilligung verkauft werden dürfen. Gleichzeitig prüfte die Wettbewerbskommission, welche rechtlichen Hindernisse diesen Parallelimporten im Weg stehen
[18].
Der Ständerat überwies eine Motion Simmen (cvp, SO), welche von der Landesregierung verlangt, die
Parallelimporte von Arzneimitteln sowie die Substitution durch
Generika gesetzlich zu regeln. Dieser Vorstoss verstand sich als Aufforderung an den Bundesrat, einen indirekten Gegenvorschlag zur Volksinitiative auszuarbeiten; gemäss Simmen würde dieses Begehren zu weit gehen und insbesondere der Sicherheit der Patientinnen und Patienten zu wenig Beachtung schenken. Der Bundesrat, der sich aufgrund der laufenden Entwicklungen nicht die Hände binden lassen wollte, beantragte vergeblich Umwandlung in ein Postulat
[19].
Mehr Unterstützung fand die Landesregierung vorerst in der grossen Kammer, die eine analoge Motion Hochreutener sowie zwei ähnlich gelagerte Motionen Widerkehr (ldu, ZH) und Cavalli (sp, TI) nur als Postulate annahm
[20]. Ausformulierte Vorschläge machte eine Motion Gysin (sp, BS). Bei Verfügbarkeit eines Generikums sollten die Krankenkassen lediglich verpflichtet werden, das
kostengünstigere Präparat zu bezahlen; zudem dürften die Ärzte nur mehr den Wirkstoffnamen und nicht mehr ein konkretes Produkt verschreiben. Auch dieser Vorstoss wurde nur in der abgeschwächten Form des Postulats verabschiedet
[21]. Bis Ende Jahr liess sich dann aber offensichtlich auch der Nationalrat davon überzeugen, dass es an der Zeit ist, hier Druck aufzusetzen. Oppositionslos nahm er in der Wintersession eine parlamentarische Initiative Strahm (sp, BE) an, welche
Parallelimporte unter der Bedingung gestatten will, dass der darin enthaltene Wirkstoff bereits einmal in der Schweiz zugelassen wurde
[22].
Mitte Jahr gab der Bundesrat bekannt, er werde die
“Denner”-Initiative aus ähnlichen Überlegungen, wie sie Simmen vorgebracht hatte, ablehnen und dazu einen
indirekten Gegenvorschlag präsentieren. Einen ersten Schritt tat er mit seinen Revisionsvorschlägen für das Krankenversicherungsgesetz (siehe auch unten, Teil I, 7c, Krankenversicherung). Nach seinen Vorstellungen sollen die Ärzte zunehmend
nur noch den Wirkstoff verschreiben, worauf dann die Apotheker gehalten sind, ein Generikum abzugeben, es sei denn, der Arzt habe deutlich das Originalpräparat rezeptiert
[23]. Ende Jahr erlaubte das BSV der Krankenkasse “Swica”, ein neues, für die Prämienzahler kostengünstigeres Versicherungsmodell anzubieten, bei dem die Kunden zugunsten von Generika auf Originalpräparate verzichten. Allerdings muss nach Ansicht der Behörden auch in dieser neuen Versicherungsform eine medizinisch angemessene Behandlung im Rahmen der Pflichtleistungen gewährleistet sein. Es wäre mit dem KVG nicht vereinbar, wenn sich die Versicherten verpflichteten, sich auch dann mit einem billigeren Medikament zufrieden zu geben, wenn ein teureres erwiesenermassen wirksamer wäre.
[24]
Als Postulat überwiesen wurde eine Motion von Nationalrat und Helsana-Präsident David (cvp, SG), welcher den Bundesrat verpflichten wollte, die binnenmarktlichen Hindernisse für
neue Vertriebsformen im Medikamentenhandel aufzuheben. Die Helsana betreibt seit dem letzten Jahr im solothurnischen Zuchwil eine Versand-Apotheke (MediServiceAG), von der aus sie ihre Kunden direkt beliefert. Die Apotheker des Kantons Solothurn reichten dagegen Beschwerde ein, blitzten beim Verwaltungsgericht aber ab, worauf sie ihre Einsprache ans Bundesgericht weiterzogen, wo sie allerdings erneut unterlagen
[25]. Aber auch die MediServiceAG bemühte die Richter in Lausanne. Sie verlangte vergeblich die aufschiebende Wirkung für ein neues Reglement des Kantons Waadt, das seit Januar die Postzustellung von Medikamenten verbietet
[26]. Die Interkantonale Kontrollstelle für Heilmittel (IKS) möchte im neuen Heilmittelgesetz
grundsätzlich ein
Verbot des Versandhandels von Medikamenten vorsehen. Ausnahmen sollten nur möglich sein, wo sehr strenge Auflagen (ärztliches Rezept, Beratung und Überwachung) gewährleistet sind; ob dies auf die MediServiceAG zutreffen würde, liess die IKS offen
[27]. Eine etwas andere Betrachtungsweise nahm die Eidg. Kartellkommission ein. Ende Jahr befand sie, alle Kantone sollten den Versandhandel mit Medikamenten zulassen, da jede andere gesetzliche Regelung dem Binnenmarktgesetz zuwiderlaufe
[28].
Die
Apotheker konterten die immer unkontrollierbarer werdenden Vertriebsformen mit der Lancierung einer
Volksinitiative, die verlangt, dass Medikamente nur unter Mitwirkung von Gesundheitsfachleuten abgegeben werden dürfen. Unterstützung fanden sie bei den Drogisten sowie kantonalen und eidgenössischen Gesundheitspolitikern. Das Begehren will verhindern, dass Arzneimittel wie gewöhnliche Ware ohne Kontrolle und Beratung durch Spezialisten über den Ladentisch gehen. Inwiefern dabei der Verkauf in Warenhäusern bzw. über neue Distributionskanäle wie Post- oder Internethandel betroffen wären, wurde von den Initianten nicht weiter ausgeführt. Das Volksbegehren, dessen Unterschriftenbogen in den Apotheken auflagen, hatte einen durchschlagenden Erfolg. Bereits knapp zwei Monate nach der Lancierung waren über 150 000 Unterschriften beisammen, doch wurde sie im Berichtsjahr noch nicht eingereicht
[29].
Dieses Volksbegehren konnte auch als Teil eines seit Jahren anhaltenden Konflikts zwischen den Krankenkassen und den Apothekern gesehen werden. Um Kosten zu sparen, möchten die Krankenversicherer die Margen der Apotheker senken; diese wiederum sehen in den geringeren Verdienstmöglichkeiten einen generellen Angriff auf ihren Stand und vor allem auf die kleinen Vertreter ihrer Branche. Gemäss den Krankenkassen sollten die
Margen der Apotheken um mindestens 5% gekürzt und im Gegenzug deren Leistungen (Beratung) fairer honoriert werden. Im Grundsatz war man sich darin einig, nur über die konkrete Ausgestaltung herrschten derart unterschiedliche Ansichten, dass die Gespräche abgebrochen wurden. Nachdem die Apotheker ihre Volksinitiative lanciert hatten, reagierte das Konkordat der Krankenkassen damit, dass es den Arzneimittelvertrag mit den Apotheken per Ende 1999 kündigte. Falls keine Einigung erzielt werden kann, würde dies bedeuten, dass die Kosten für die Heilmittel nicht mehr direkt mit den Kassen abgerechnet werden können; der Patient müsste die Medikamente bezahlen und die Rückerstattung dann bei der Versicherung beantragen
[30].
Immer mehr kommen neben medizinisch gerechtfertigten Medikamenten sogenannte “Life-style-drugs” auf den Markt. Im Berichtsjahr machte vor allem
“Viagra”, ein Mittel gegen Potenzstörungen, viel von sich reden. Oppositionslos nahm der Nationalrat ein Postulat Günter (sp, BE) an, welches den Bundesrat auffordert, derartige Präparate nicht in die Liste der kassenzulässigen Arzneien aufzunehmen
[31].
[16] Presse vom 9.4., 15.4., 16.4., 22.4. und 8.9.98;
TA, 17.4. und 18.4.98;
SoZ, 19.4.98. Siehe dazu auch die Stellungnahmen des BR in
Amtl. Bull. NR, 1998, S. 1666 f. und 1859 f. Vgl. auch
SPJ 1997, S. 248.
[17] Presse vom 13.6. und 11.9.98.
[18] Preisüberwacher: Presse vom 28.2.98. Wettbewerbskommission: Presse vom 13.2. und 29.4.98.
[19]
Amtl. Bull. StR, 1998, S. 403 ff. Die Zustimmung zur Motion erfolgte mit 18:2 Stimmen. Zu den Generika (Nachahmerprodukte, die den gleichen Wirkstoff enthalten wie das – patentabgelaufene – Originalpräparat) siehe
TA, 23.3.98; Presse vom 23.10.98.
[20]
Amtl. Bull. NR, 1998, S. 732 f. und 1861 f.
[21]
Amtl. Bull. NR, 1998, S. 1858 f.
[22]
Amtl. Bull. NR, 1998, S. 2798 ff.
[23]
BBl, 1999, S. 793 ff.;
NZZ, 2.7.98; Presse vom 22.9.98.
[25]
Amtl. Bull. NR, 1998, S. 1505 ff.;
TA, 24.1.98; Presse vom 7.4. und 25.11.98. Siehe
SPJ 1997, S. 248.
[26] Presse vom 24.4.98. 14 Kantone verbieten den Versandhandel, zehn haben nur ein indirektes Verbot oder keine klaren Bestimmungen (
Bund, 13.5. und 15.6.98;
SGT, 2.12.98). Praktisch unkontrollierbar läuft der Versandhandel mit rezeptpflichtigen oder sogar verbotenen Medikamenten über Internet ab. Die Behörden stehen diesen Angeboten meist machtlos gegenüber und können nur darauf reagieren, wenn der Anbieter seine Identität preisgibt (
NZZ, 5.1. und 15.12.98;
SGT, 20.1.98).
[27]
Bund, 15.6. und 15.12.98;
TA, 6.6.98.
[28] Presse vom 10.12.98.
[29]
BBl, 1998, S. 4421 ff.; Presse vom 15.9.98;
NZZ, 5.11.98.
[30] Presse vom 13.11. und 14.11.98.
[31]
Amtl. Bull. NR, 1998, S. 2195. Als erstes Land Europas liess die IKS Viagra zu, allerdings nur auf Rezept und auf eigene Rechnung (Presse vom 23.6.98). Der Hersteller beantragte umgehend die Zulassung zur Spezialitätenliste (Presse vom 25.6.98).
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