Année politique Suisse 1998 : Sozialpolitik / Sozialversicherungen / Grundsatzfragen
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Finanzierung
Aufgrund der beiden Berichte IDA-FiSo 1 und 2 traf sich der Gesamtbundesrat zu mehreren Aussprachen über die künftige Entwicklung der Sozialwerke. Zwei grundsätzliche Vorgaben leiteten ihn dabei. Erstens die Feststellung, dass sich die Sozialversicherungen alles in allem bewährt haben und politisch gut verankert sind, weshalb sich eine generelle Änderung des Systems nicht aufdrängt. Zweitens die Erkenntnis, dass es zu deren finanzieller Sicherung zusätzlicher Mittel bedarf, und zwar unabhängig davon, ob die Leistungen ausgebaut, auf dem jetzigen Stand eingefroren oder verringert werden. Der Bundesrat will die Sozialwerke auch in Zukunft aus verschiedenen Quellen alimentieren, weil eine Mischfinanzierung am ehesten Stabilität gewähre. Für die Beschaffung zusätzlicher Mittel steht die Erhöhung der Mehrwertsteuer im Vordergrund. Ausgehend von der Gesamtschau von IDA-FiSo 2 definierte die Landesregierung drei Bereiche, die prioritär bearbeitet werden sollen, nämlich die Krankenversicherung mit der Umsetzung der kostendämpfenden Massnahmen, die Arbeitslosenversicherung mit der sozialen und beruflichen Wiedereingliederung und die AHV/IV mit einem ausgewogenen Verhältnis zwischen Einnahmen und Leistungen [6].
In der Volksabstimmung vom 7. Juni sprachen sich die Stimmberechtigten für die Sanierung der Bundesfinanzen aus (siehe oben, Teil I, 5, Sanierungsmassnahmen). Die Gegner des neuen Verfassungsartikels hatten im Vorfeld die Befürchtung geäussert, damit würden Tür und Tor für einen unüberlegten Sozialabbau geöffnet. Insbesondere könnte sich der Druck zu weiteren Einsparungen bei der AHV erhöhen. Die Sozialversicherungen seien jedoch auf das Vertrauen der Bevölkerung in ihre langfristige Stabilität angewiesen. Dieses werde durch den Einbezug der Sozialversicherungen in institutionelle Sparautomatismen wie das Haushaltsziel 2001 beeinträchtigt. Die Befürworter, angeführt von Bundesrat Villiger, betonten demgegenüber, dass solide Staatsfinanzen auch die Voraussetzung für eine langfristige Sicherung der Sozialwerke bilden [7].
Am ”Runden Tisch” wurde ausgehandelt, dass die Kantone 500 Mio Fr. zur Sanierung der Bundesfinanzen beitragen. Für gut 180 Mio Fr. davon lagen nach Abschluss der Gespräche drei Varianten vor: Erhöhung der Kostenbeteiligung an der Prämienverbilligung in der Krankenversicherung, Beteiligung an den Kosten der Regionalen Arbeitsvermittlungszentren (RAV) oder Erhöhung der Kantonsbeiträge an die AHV. Der Bundesrat entschied sich für letzere Variante. Damit wird der Bund von 1999 an bei der AHV um diesen Betrag entlastet [8].
In Beantwortung einer Einfachen Anfrage Rychen (svp, BE) zu den Sozialversicherungskosten, welche der Schweiz bei Abschluss der bilateralen Verhandlungen mit der EU ins Haus stehen, machte die Landesregierung anfangs Juli erstmals konkrete Angaben. Ihrer Ansicht nach sind die grössten Kosten bei der Arbeitslosenversicherung zu erwarten, da Kurzaufenthalter und Saisonniers künftig nach einem Aufenthalt von sechs Monaten Taggelder beziehen können, wobei die Schweiz die zuvor in einem anderen EU-Staat geleistete Versicherungszeit berücksichtigen muss. Positiv zu vermerken sei aber, dass die EU in eine Übergangsfrist von sieben Jahren einwillige, da die Schweizer Wirtschaft überdurchschnittlich viele Wanderarbeiter mit befristeten Verträgen beschäftigt. In diesem ersten Zeitraum wird die Schweiz jährlich Beiträge von rund 170 Mio Fr. ausbezahlen und weitere 40 Mio Fr. an ausländische Versicherungen rückerstatten. Nach Ablauf der Frist wird volles EU-Recht gelten: dannzumal, schätzte der Bundesrat, werden die Zusatzkosten auf 370 bis 600 Mio Fr. pro Jahr steigen. Eine Entlastung sei dagegen bei den Grenzgängern absehbar. Heute zahlt die Schweiz den Arbeitslosenkassen in den Nachbarländern die Beiträge der Grenzgänger im Umfang von rund 200 Mio Fr. zurück. Diese Rückerstattung ist innerhalb der EU nicht vorgesehen und fällt deshalb nach der Übergangsfrist dahin.
Bei der AHV rechnet der Bundesrat mit jährlichen Kosten von 34 Mio Fr. Für die berufliche Vorsorge liegen die Ausgaben bei 10,7 und für die Familienzulagen bei 2 Mio Fr. Die Krankenversicherung für die Angehörigen von EU-Wanderarbeitnehmern und Grenzgängern wird dem Staat kaum Mehrkosten verursachen, da die Kassen das Angebot selbsttragend gestalten sollen. Allerdings wird die Schweiz in Härtefällen die Prämienverbilligung exportieren müssen. Damit liegen die gesamten Zusatzkosten während der siebenjährigen Übergangsfrist bei 462 Mio Fr. In der anschliessenden Phase mit uneingeschränktem EU-Recht muss mit Kosten von 422 bis 652 Mio Fr. jährlich gerechnet werden. Dem stehen Verbesserungen gegenüber, von denen auch Schweizer im EU-Rahmen profitieren. So ist vorgesehen, die zwischenstaatliche Leistungsaushilfe zu gewähren und die Beitragszeiten an ausländische Sozialversicherungen zu addieren und als Basis für die Auszahlungen zu verwenden [9].
 
[6] Presse vom 20.2.98; SHZ, 15.7.98 (Interview mit BR Dreifuss).6
[7] Presse vom 10.5. bis 6.6.98.7
[8] Presse vom 2.7.98. Siehe oben, Teil I, 5 (Sanierungsmassnahmen).8
[9] Amtl. Bull. NR, 1998, S. 1668 f.; TA, 15.6. und 2.7.98; NLZ, 19.12.98. Siehe dazu auch ein überwiesenes Postulat der SVP-Fraktion (Amtl. Bull. NR, 1998, S. 2194).9