Année politique Suisse 1998 : Bildung, Kultur und Medien / Kultur, Sprache, Kirchen
 
Kirchen
Während die Anrufung Gottes in der Präambel der revidierten Bundesverfassung im Ständerat oppositionslos genehmigt wurde, führte dies im Nationalrat zu einem ersten Schlagabtausch zwischen den politischen Lagern. Im Namen einer Kommissionsminderheit stellte Gross (sp, ZH) den Antrag, die Gottesanrufung sei zu streichen. Er machte geltend, diese sei zu einer Floskel geworden und vermöge einer modernen Verfassung nicht mehr zu genügen. Gross schlug vor, im ersten Satz lediglich die von der Verfassungskommission zusätzlich vorgeschlagene (und vom Rat auch eingefügte) „Verantwortung gegenüber der Schöpfung” zu erwähnen. Seine Argumentation stiess auf massiven Widerspruch. Fritschi (ZH) warnte namens der FDP-Fraktion davor, ausgerechnet das traditionellste aller traditionellen Elemente aus der Verfassung zu kippen. Er meinte, das wäre ein kontraproduktives Vorgehen, welches in der Volksabstimmung zur sicheren Ablehnung der ganzen Verfassungsreform führen würde. Föhn (SZ) verwies für die SVP darauf, dass die Schweiz ein Teil des christlichen Abendlandes sei und eine Anrufung Gottes deshalb nie eine Floskel sein könne. Als Vertreter der CVP warnte Durrer (OW) davor, mit der christlichen Tradition zu brechen und eine neue Wertordnung zu schaffen. Unterstützung fanden die Gegner des Antrags bei Bundesrat Koller. Mit der Anrufung Gottes werde eine alte Tradition fortgesetzt, die in der Vernehmlassung auf ein überaus positives Echo gestossen sei. Die Verankerung von „Gott dem Allmächtigen” sollte laut Koller klarmachen, dass eine höhere Macht über Mensch und Staat steht. Nachdem mehrere Eventualanträge, die zumindest eine Lockerung der Formulierung verlangten, keine Mehrheit gefunden hatten, wurde der Antrag Gross mit 105 zu 53 Stimmen klar abgelehnt [36].
Gegen den Vorschlag des Bundesrates hatten die Verfassungskommissionen beider Räte im Vorjahr beschlossen, den gesamten Art. 72, der das Verhältnis von Kirche und Staat regelt, aus der nachgeführten Bundesverfassung zu kippen. Stein des Anstosses war vor allem Abs. 3 des Artikels, der sogenannte „Bistumsartikel”, der die Errichtung neuer oder die Gebietsveränderung bestehender Bistümer der Genehmigung des Bundes unterstellt. Die Kommissionen nahmen damit das Anliegen einer parlamentarischen Initiative von alt Ständerat Huber (cvp, AG) auf, welcher die kleine Kammer 1995 Folge gegeben hatte. Die Gegner einer Streichung – darunter der Evangelische Kirchenbund und die Römisch-katholische Zentralkonferenz der Schweiz machten geltend, gerade die jüngste Vergangenheit mit den Ereignissen im Bistum Chur habe die Bedeutung dieses Artikels gezeigt. Entfalle die Kontrolle durch den Bund, sei der Vatikan frei in der Errichtung der Bistümer, womit möglicherweise auch die Konkordate der Diözesen Basel und St. Gallen gefährdet seien, welche das ortskirchliche Bischofswahlrecht garantieren [37].
Der Ständerat als Erstrat hielt sich – gegen einen Antrag Inderkum (cvp, UR) an die Empfehlungen seiner Kommission und strich nach kurzer Diskussion den Artikel mit 20 zu 17 Stimmen. Haupttenor war, die Manifestationen religiösen Lebens seien Teil der Gewissensfreiheit, eine Bedrohung des konfessionellen Friedens sei in weite Ferne gerückt und der „Bistumsartikel” lediglich ein Überbleibsel aus dem „Kulturkampf“ im 19. Jahrhundert. Bundesrat Koller anerkannte zwar, dass der Artikel unter grund- und völkerrechtlichen Aspekten problematisch sei, plädierte aber vergebens dafür, die Angelegenheit erst in einer nachfolgenden Partialrevision zu lösen, da es politisch nicht klug wäre, eine bestehende und emotional nicht zu unterschätzende Verfassungsbestimmung im Rahmen der Nachführung einfach zu streichen. Im Nationalrat fand Koller dann mehr Gehör. Mit dem relativ deutlichen Mehr von 88 zu 68 Stimmen wurde der „Bistumsartikel” beibehalten, obgleich auch hier mehrfach betont wurde, diese Diskriminierung einer einzelnen Konfession sei wahrlich kein Ruhmesblatt für die neue Verfassung. Die von Koller ins Feld geführten staatspolitischen Bedenken führten schliesslich auch im Ständerat zum Umdenken. Die Entscheidung fiel allerdings nur mit Stichentscheid des Präsidenten [38]. Bei diesen Diskussionen war allerdings klar geworden, dass niemand mehr ernsthaft an diesen einschränkenden Bestimmungen festhalten will, weshalb die Frage baldmöglichst mit einer Teilrevision gelöst werden soll. In Ausführung der von ihr 1995 angenommenen parlamentarische Initiative beauftragte die staatspolitische Kommission des Ständerates den Bundesrat mit einer Vernehmlassung zu dieser Problematik [39].
Einen weiteren „alten Zopf” aus dem Kulturkampf wollte der Bundesrat im Sinn der Nachführung auch in Artikel 143 beibehalten, der die Wählbarkeitsvoraussetzungen für den Nationalrat, den Bundesrat und das Bundesgericht definiert. Nach Auffassung des Bundesrates sollten dafür nur Stimmberechtigte „weltlichen Standes” in Frage kommen, also weiterhin keine amtierenden Priester und Pfarrer sowie keine Angehörigen klösterlicher Gemeinschaften. In beiden Kammern beantragten die Kommissionen einstimmig, dass alle Stimmberechtigten in diese Gremien gewählt werden können; ihrer Ansicht nach handelte es sich hier um eine unbestrittene Änderung, da damit die Diskriminierung der Geistlichen aller grösserer Religionen aufgehoben wird. Im Nationalrat wies Bundesrat Koller darauf hin, dass diese Streichung über die eigentliche Nachführung hinausgeht, widersetzte sich ihr aber nicht, zumal damit ein Rechtszustand hergestellt wird, der auch in Übereinstimmung mit Art. 25 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte ist, der ganz klar einen diskriminierungsfreien Zugang zu öffentlichen Ämtern gewährleistet. Beide Kammern stimmten der Streichung stillschweigend zu [40].
Als Nachfolger des umstrittenen Bischofs Wolfgang Haas wurde Amédée Grab, Bischof von Freiburg-Lausanne-Genf und seit kurzem Vorsitzender der Schweizer Bischofskonferenz, zum neuen Vorsteher der Diözese Chur ernannt. Da einige Schritte im Wahlprozedere nicht eben transparent waren, wurden erneut Stimmen laut, wonach der Vatikan auch diesmal die verbrieften Rechte des Churer Domkapitels missachtet habe. Gegen Grab persönlich, einen zwar eher konservativen, aber dialogbereiten Kirchenvertreter, regte sich kein besonderer Widerstand [41].
Die Stadt Bern – zusammen mit dem Kanton seit Jahren führend in der öffentlich-rechtlichen Anerkennung ausserchristlicher Religionsgemeinschaften – will als erste Deutschschweizer Gemeinde in ihren Friedhöfen besondere Abteilungen für religiöse und ethnische Minderheiten schaffen, welche es deren Angehörigen ermöglichen wird, sich nach den Gesetzen des eigenen Glaubens beerdigen zu lassen. Der Stadtrat genehmigte das entsprechende Reglement erstaunlich deutlich mit 66 zu 4 Stimmen bei 5 Enthaltungen. Die Öffnung betrifft vor allem die Muslime, welche seit Jahren verlangten, als Gruppe und in der ihnen durch den Glauben vorgeschriebenen Ausrichtung auf Mekka bestattet zu werden. Bisher war das einzige Islam-Abteil auf Schweizer Friedhöfen das ”carré musulman” in Genf. In Zürich ist man seit Jahren an einer entsprechenden Änderung, doch stehen diesem Schritt kantonale Gesetze und politischer Druck im Weg [42].
 
[36] Amtl. Bull. StR, 1998, S. 22 f.; Amtl. Bull. NR, 1998, S. 619 ff.36
[37] BBl, 1997, I, S. 287 f. (BR); BZ und TA, 20.1.98; NLZ, 2.3.98. Siehe SPJ 1995, S. 298 und 1996, S. 314.37
[38] Amtl. Bull. StR, 1998, S. 235 f. und 853 ff.; Amtl. Bull. NR, 1998, S. 957 ff.38
[39] Presse vom 17.11.98.39
[40] Amtl. Bull. NR, 1998, S. 93; Amtl. Bull. StR, 1998, S. 274 ff.40
[41] BüZ, 27.1. und 15.3.98; NLZ, 30.1.98; Presse vom 17.2., 9.6.-13.6., 21.8. und 24.8.98. Siehe SPJ 1990, S. 270 f. Als Beruhigung der Lage in der Diözese kann der Umstand gewertet werden, dass sich die Zürcher Katholiken bereit erklärten, ab 1999 die Bistumsbeiträge wieder in Chur abzuliefern (TA, 26.6.98).41
[42] Presse vom 11.8. und 4.8.98. Zur Vorreiterrolle Berns siehe SPJ 1997, S. 49.42