Année politique Suisse 1999 : Parteien, Verbände und Interessengruppen / Parteien
 
Schweizerische Volkspartei (SVP)
Die SVP lancierte im Wahljahr zwei Volksinitiativen. Im Februar ermächtigten die SVP-Delegierten ihre Parteileitung, im Spätsommer eine neue Asylinitiative zu lancieren. Die Initiative verlangt eine Senkung der Fürsorgekosten und eine verschärfte Drittstaatenregelung. Auf ein Asylgesuch soll künftig nur eingetreten werden, sofern der Gesuchsteller in keinem Drittstaat ein hängiges Asylverfahren laufen hat oder ein solches hätte einreichen können. Im April gaben die Delegierten mit 358 gegen wenige, vorwiegend welsche Stimmen ihre Zustimmung zu einer weiteren Volksinitiative, welche verlangt, dass sämtliche Goldreserven der Nationalbank, die nicht mehr für die Währungspolitik notwendig sind, in den AHV-Fonds einfliessen sollen. Damit würde die vom Bundesrat geplante Solidaritätsstiftung verhindert [20].
An der Albisgüetli-Tagung im Januar, einer jährlichen Veranstaltung der Zürcher SVP, widmete der in der SVP tonangebende Zürcher Nationalrat Christoph Blocher seine Rede einem Ausblick ins 21. Jahrhundert. Der Staat sei heute zu teuer; er müsse entschlackt und die Staats- und Steuerquoten gesenkt werden. Der Sozialismus führe durch seine beabsichtigte Gleichmacherei und Umverteilung zu mehr Egoismus. Dagegen sei Eigenverantwortung "wahrhaft soziales Verhalten". Er forderte die Bürgerinnen und Bürger dazu auf, für sich selber zu sorgen und anderen nicht zur Last zu fallen. Die Zukunft gehöre dem wahrhaft liberalen Staat und nicht etwa der Erlösung durch die EU, welche er mit Zentralismus und staatlicher Allmacht gleich setzte. Blocher appellierte an die Wähler der FDP und CVP, sich der "Selbst-Verantwortungs-Partei" SVP anzuschliessen [21].
Am SVP-Programmparteitag in Reconvillier (BE) bekräftigte die SVP ihren Widerstand gegen einen Beitritt der Schweiz zur EU und zur UNO und gegen die Bewaffnung von Schweizer Militärangehörigen im Auslandeinsatz. Die Berner Sektion, welche für eine weniger radikale Haltung eintrat, fand bei den Delegierten keine Mehrheit. Die im Herbst vom Parlament verabschiedeten bilateralen Verträge mit der EU wurden auch von einer Mehrheit der SVP-Fraktion gutgeheissen. Christoph Blocher stimmte zwar gegen die Verträge, lehnte es jedoch ab, das von der Lega und den Schweizer Demokraten lancierte Referendum zu unterstützen [22].
Gegen Ende Juni häuften sich Pressemeldungen und Interviews mit Exponenten anderer Parteien, die sich kritisch mit der Politik der SVP auseinandersetzten. Heftige Reaktionen löste vor allem ein Plakat eines Komitees aus SVP-, SD-, FP- und Lega-Vertretern, unterstützt durch die Denner AG, aus, das ganzseitig in über 40 Tageszeitungen erschien. Die Aktion galt der Ankündigung einer Initiative, welche Volksinitiativen künftig innert sechs Monaten unter Ausschluss von Bundesrat und Parlament vor das Volk bringen will (von Kritikern als „Maulkorb-Initiative“ bezeichnet). Der Titel "Wenn in der Schweiz das Volk spricht, haben Politiker zu schweigen" erzürnte auch Bundesrat Couchepin. Er beschuldigte insbesondere Nationalrat Blocher, einen "regelrechten Angriff auf die demokratische Grundordnung, in welcher Politiker Vertreter des Volkes sind" zu lancieren. Später distanzierten sich kantonale und lokale Parteisektionen auch von einem national verbreiteten Wahlplakat der SVP, das als fremdenfeindlich kritisiert wurde [23].
Im Berichtsjahr gründete die SVP neue Kantonalsektionen in den CVP-Hochburgen Wallis, Nidwalden und Obwalden. Damit ist die Partei in allen Kantonen ausser Neuenburg vertreten [24].
Ende August gab Generalsekretär Baltisser seinen Rücktritt auf Ende Jahr bekannt. Der Rückzug sei nicht politisch motiviert, versicherten der 30jährige Volkswirtschaftler und Parteipräsident Maurer einhellig. Er wolle sich beruflich neu orientieren und habe bereits bei Amtsantritt bekundet, dass er das Amt nur für eine gewisse Zeit ausüben wolle. Einen Monat später wurde der neue Generalsekretär vorgestellt: Jean-Blaise Defago, bisher Pressechef der SVP. Im November wurde schliesslich Irène Schellenberg zur neuen Pressesprecherin ernannt [25].
Anfangs September drohte Parteipräsident Maurer mit dem Ausschluss der Genfer SVP-Sektion, sollte diese sich nicht von ihrem Nationalratskandidaten und Parteisekretär Pascal Junod trennen. Junod war zuvor in Verdacht geraten, rechtsradikalen Vereinigungen nahe zu stehen. Nachdem Junod eine versprochene schriftliche Distanzierung vom Rechtsextremismus und einschlägigen Organisationen bei der nationalen Parteizentrale nicht eingereicht hatte, wurde der Ausschluss offiziell eingefordert. Nach Weigerung der Genfer Sektion, Junod auszuschliessen, leitete die Parteileitung Ende September gegen die Sektion das Ausschlussverfahren ein. Dieses wurde eingestellt, nachdem Junod seinen Austritt aus der SVP bekanntgegeben hatte [26].
Rechtsextremismusvorwürfe richteten sich auch gegen Christoph Blocher. Eine Woche vor den Wahlen veröffentlichte die Sonntagspresse Ausschnitte aus einem Schreiben Blochers an einen Herrliberger Unternehmer vom März 1997. Darin bedankte sich Blocher für die Zusendung eines Buches des als Holocaust-Leugner verurteilten Jürgen Graf. Das Papier war bei der Verhaftung Grafs beschlagnahmt und zu den Prozessakten gelegt worden. Die Brisanz des Briefes steckte in der Kommentierung Blochers „wie recht er doch hat“. In der Folge wurde Blocher von allen Seiten angegriffen, insbesondere die Parteipräsidenten der CVP und der SP zeigten sich sehr besorgt. Sogar internationale Kritik traf in Bern ein. Die FDP publizierte Inserate mit dem Wortlaut „Bei uns hat Rechtsextremismus keinen Platz!“, welche die SVP mit eigenen Inseraten konterte. Blocher indes sah sich einer Hetzkampagne gegen seine Person ausgesetzt, die bewusst kurz vor den Wahlen inszeniert worden sei. Er habe das Buch gar nie gelesen, und sein Kommentar beziehe sich lediglich auf den Titel „Vom Untergang der Schweizerischen Freiheit“ [27].
Bei den eidgenössischen Wahlen erzielte die SVP einen Erdrutschsieg und wurde – gemessen am Wähleranteil – von der viertgrössten zur stärksten Partei. Sie forderte einen zweiten Sitz im Bundesrat, zuerst auf Kosten der CVP, dann der SP. Für die Gesamterneuerungswahl vom Dezember schickte die SVP-Fraktion Christoph Blocher gegen die beiden SP-Vertreter ins Rennen. Seine Kandidatur erhielt aber praktisch keine Unterstützung von ausserhalb der SVP und unterlag deutlich [28].
 
[20] Zur Asylinitiative: Presse vom 22.2.99; vgl. oben, Teil I, 7d (Flüchtlinge). Zur AHV-Initiative: Presse vom 26.4. und vom 21.8.99; vgl. oben, Teil I, 1a (Grundfragen). 20
[21] Presse vom 16.1.99. 21
[22] Presse vom 25.1.99. Zu weiteren Ergebnissen des Parteitages vgl. oben, Teil I, 1e (Wahlplattformen der Parteien). 22
[23] NLZ und Bund, 22.6.99; TA, 23.6. und 29.6.99. Vgl. oben, Teil I, 1e (Wahlplattformen der Parteien). 23
[24] NZZ, 17.7. (VS), 30.8. (NW) und 7.12.99 (OW). 24
[25] Presse vom 1.9., 1.10. und 21.11.99. 25
[26] Presse vom 13.9., 14.9. und 1.10.99; NZZ, 24.12.99. 26
[27] WoZ, 1.10.99; So-Blick, 17.10. und 24.10.99; Presse vom 18.10., 19.10. und 21.10.99. Zu weiteren Rechtsextremismusvorwürfen gegen SVP-Politiker: WoZ, 7.10.99; So-Blick, 19.12.99. 27
[28] Presse vom 26.10. und 28.10.99. Zur Bundesratswahl vgl. oben, Teil I, 1c (Regierung). 28