Année politique Suisse 1999 : Parteien, Verbände und Interessengruppen / Verbände und übrige Interessenorganisationen
 
Arbeitnehmer
Der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) hatte einige Mühe, die erforderlichen Unterschriften für die von ihm im Vorjahr lancierten resp. mitgetragenen fünf Volksinitiativen zusammenzubringen. Vier davon konnten fristgerecht eingereicht werden: die von ihm lancierten Initiativen für eine Verkürzung der Arbeitszeit resp. die Einführung einer Kapitalgewinnsteuer, sowie die vor allem von Jugendverbänden getragene Lehrstelleninitiative und die Krankenkasseninitiative, bei welcher die SP federführend war. Die vom SGB zusammen mit dem Christlichnationalen Gewerkschaftsbund (CNG) gestartete Initiative für eine obligatorische Krankentaggeldversicherung kam hingegen nicht zustande. Selbstkritisch gab man in Gewerkschaftskreisen zu, sich mit der Beteiligung an fünf mehr oder weniger gleichzeitig lancierten Volksinitiativen übernommen zu haben. Das unter der Bezeichnung „Bouquet für eine sozialere und gerechtere Schweiz“ laufende Paket habe zwar am Anfang motivierend gewirkt, später seien die Aktivisten und Aktivistinnen aber mit der Aufgabe, für fünf verschiedene Projekte Unterschriften zu sammeln, überfordert gewesen [5].
Das Referendum der Lega und der SD gegen die bilateralen Verträge mit der EU wurde von den Gewerkschaften nicht unterstützt. Es bestanden zwar in den Reihen der Gewerkschaften ernsthafte Befürchtungen über Lohndumping nach der Einführung der Freizügigkeit im Personenverkehr. Mit den vom Parlament beschlossenen Begleitmassnahmen, welche insbesondere eine erleichterte Allgemeinverbindlichkeitserklärung für Gesamtarbeitsverträge brachten, wurde diesen Ängsten aber weitgehend Rechnung getragen. Vor den Parlamentsverhandlungen hatte die Gewerkschaft Bau und Industrie (GBI) beschlossen, die Verträge mit einem Referendum zu bekämpfen, falls diese Begleitmassnahmen nicht zu ihrer Zufriedenheit ausfallen würden. Später doppelte der SGB nach, indem er unmittelbar vor Beginn der Ratsdebatten bekannt gab, dass er sein Sekretariat mit der Vorbereitung der Kampagne für ein allfälliges Referendum beauftragt habe [6].
Die Gewerkschaften nutzten die markant verbesserte Konjunkturlage zur Anmeldung von Lohnforderungen. Besonders aktiv waren die Beschäftigten der Baubranche. Ende September demonstrierten in Bern 18 000 Personen für die Forderung der GBI nach 200 Fr. mehr Monatslohn für alle. Es handelte sich dabei um die grösste Manifestation des Berichtsjahres [7].
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Organisation und Mitgliederbewegung
Die Umstrukturierungen beim Bundespersonal (Verselbständigung der Regiebetriebe, neues Personalrecht) und die damit verbundene Diskussion um dessen Rechte und Stellung begünstigten die Einsicht in die Notwendigkeit eines Zusammenschlusses der Verbände der Beschäftigten beim öffentlichen Dienst. Die Delegierten des Eisenbahnerverbandes (SEV) erklärten sich grundsätzlich mit einer Vereinigung mit dem Verband des Personals öffentlicher Dienste (VPOD) einverstanden. Als zeitliche Perspektive wurde eine Fusion in rund fünf Jahren angegeben. Obwohl einige Westschweizer Sektionen gegen die Vereinigung mit dem von ihnen als zu wenig kämpferisch kritisierten SEV protestierten, stimmten auch die Delegierten des VPOD der Ausarbeitung eines Fusionsprojekts klar zu. Dabei wurde angekündigt, dass man auch die Gewerkschaft Kommunikation des Post- und Telekommunikationspersonals für die neue Organisation gewinnen wolle [8]. Bereits fusioniert haben die im CNG organisierten Verbände des Bundespersonals. Am 29. November fand in Interlaken (BE) der Gründungskongress für die rund 20 000 Mitglieder zählende Gewerkschaft „transfair“ statt, welche die ehemaligen Organisationen ChPTT, Christliche Gewerkschaft Verkehr-Militär-Zoll und den Verband des christlichen Bundespersonals umfasst [9].
Die Mitgliederzahl des SGB war erneut rückläufig. Sie bildete sich um gut 7000 auf 380 139 zurück. Der SMUV wurde mit 92 860 Mitgliedern wiederum zur stärksten Einzelgewerkschaft vor der GBI (92 546), bei welcher der Mitgliederschwund überdurchschnittlich hoch war. Die einzige SGB-Organisation mit einem Wachstum war die 1996 gegründete Unia, welche im Dienstleistungssektor tätig ist und ihre Mitgliederzahl um rund 2500 auf 14 585 steigern konnte [10].
 
[5] Bund, 13.2.99; TA, 11.5. und 22.9.99; NZZ, 4.11.99. Vor Ablaufen der Sammelfristen engagierte der SGB erstmals auch bezahlte Unterschriftensammler (Lib., 14.7.99). Vgl. SPJ 1998, S. 396.5
[6] TA, 10.5.99 und 24h, 11.10.99 (GBI); NZZ, 26.8.99 und 24h, 19.10.99 (SGB). Zu den Begleitmassnahmen siehe oben, Teil I, 7a (Kollektive Arbeitsbeziehungen).6
[7] Bund, 25.9. und 27.9.99.7
[8] NZZ, 29.5.99 (SEV); Lib., 25.6.99 (Opposition im VPOD); NZZ, 26.6.99 (VPOD).8
[9] NZZ, 30.11.99. Vgl. SPJ 1998, S. 397.9
[10] LT, 20.4.00. Zur Gründung der Unia siehe SPJ 1996, S. 371 f.10