Année politique Suisse 1999 : Grundlagen der Staatsordnung / Politische Grundfragen und Nationalbewusstsein
Totalrevision der Bundesverfassung
Am 18. April fand die
Volksabstimmung über die neue, totalrevidierte Verfassung statt. Mit Ausnahme von links- und rechtsextremen Kleinparteien (PdA, FP, SD) sprachen sich alle
nationalen Parteien und auch alle massgeblichen Interessenverbände für die neue Verfassung aus. Unter den Regierungsparteien fiel der Entscheid bei der SVP am knappsten aus: die von den Zürcher Nationalräten Hans Fehr und Schlüer angeführte Opposition unterlag an der Delegiertenversammlung mit 185:92 Stimmen. Für die rechtsbürgerlichen Kritiker ging die Reform über eine Nachführung hinaus. Sie sei vielmehr Ausdruck eines unakzeptablen, von der politischen Mitte und der Linken geprägten Politikverständnisses. Die
Sektion Zürich der SVP und in ihrem Gefolge auch diejenigen von Kantonen, wo die SVP erst in den letzten Jahren gegründet worden ist (unter anderem BS, LU, SO, SG), gaben die Nein-Parole aus. Bei der SP, deren Fraktion die neue Verfassung anlässlich der parlamentarischen Verhandlungen ebenfalls heftig kritisiert hatte, entschied sich der Parteivorstand mit 34:3 Stimmen für die Ja-Parole. Die von Nationalrat Rennwald (JU) formulierte Kritik bemängelte das Fehlen von linken Politikinhalten, also gerade das Gegenteil von dem, was der Verfassung von SVP-Seite vorgeworfen wurde
[19].
In der
Kampagne schlugen die Wellen nicht sehr hoch. Auf Befürworterseite fiel vor allem der grosse Einsatz des aus dem Amt scheidenden Justizministers Koller auf. Im redaktionellen Teil der Presse war die Stimmung durchwegs positiv, hingegen waren praktisch keine Inserate für die neue Verfassung auszumachen. Die nicht zuletzt in Leserbriefen sehr aktiven Gegner behaupteten, dass sich die Schweiz mit der Verfassung internationalem Recht unterstellen würde (weil darin der auch bisher geltende Vorrang des Völkerrechts nun explizit erwähnt ist), sie zu einem Ausbau des Sozialstaats führe und sich überhaupt die alte Verfassung bewährt habe. In den Inseraten sprachen sie vor allem davon, dass die neue Verfassung eine „
Liquidation der Schweiz“ einleiten würde; zudem stellten sie darin auch eine ganze Reihe von schlicht falschen Behauptungen auf (z.B. dass in der neuen Verfassung die Begriffe „Schweizerische“ und „Eidgenössische“ gestrichen worden seien). Neben den erwähnten SVP-Kantonalsektionen, der FP und den SD beteiligten sich auch weit rechtsaussenstehende Organisationen wie der VPM (mit der ihm nahestehenden Zeitschrift „Zeit-Fragen“) und „Pro Libertate“ an der Kampagne
[20].
Volk und Kantone hiessen die totalrevidierte Bundesverfassung am 18. April mit einer
relativ knappen Mehrheit von 59,2% und bei 122/2 gegen 84/2 Ständestimmen gut. Die Beteiligung fiel mit 35,9% recht mager aus; besonders niedrig war sie in der Romandie, wo nur gerade 21,6% von ihrem Stimmrecht Gebrauch machten. Mitverantwortlich dafür war sicher auch der Beschluss des Bundesrates, diese Vorlage in Anbetracht ihrer besonderen Bedeutung allein, d.h. nicht im Multipack mit anderen, für die Stimmbürgerinnen und -bürger attraktiveren Vorlagen zu präsentieren. Am meisten Ja-Stimmen gab es in der französischen Schweiz (mit Ausnahme des Wallis) und im Tessin. Ähnlich deutlich fiel die Zustimmung auch in den Grossstädten der Deutschschweiz aus. Gegen die totalrevidierte Verfassung sprachen sich die kleinen Kantone der Innerschweiz (ohne Zug), die Ostschweiz (ohne Graubünden) sowie der Aargau und das Wallis aus
[21].
Bundesbeschluss über die Neue Bundesverfassung
Abstimmung vom 18. April 1999
Beteiligung: 35,9%
Ja: 969 310 (59,2%) / 122/2 Stände
Nein: 669 158 (40,8%) / 84/2 Stände
Parolen:
– Ja: SP, FDP, CVP, SVP (8*), LP, LdU, EVP, EDU (1*); SGB, CNG, Vorort, SGV, SBV.
– Nein: FP, SD, PdA; Centre patronal.
* In Klammer Anzahl abweichender Kantonalsektionen
Die unmittelbar nach der Volksabstimmung durchgeführte
Repräsentativbefragung Vox zeigte, dass die neue Verfassung von den Sympathisanten der SP am besten unterstützt worden war, und dass sie auch bei den Anhängern der FDP und der CVP sehr klare Mehrheiten fand. Deutliche Nein-Mehrheiten ergaben sich dagegen bei den Sympathisanten der SVP und bei Personen, die sich auf einer Links/Rechts-Skala als weit rechts stehend einordnen. Die zum Teil unwahren Behauptungen in der Propaganda der Kritiker der neuen Verfassung hatten bei den Nein-Stimmenden offenbar ihre Wirkung entfaltet: In einer offenen Frage nach den Gründen für den Entscheid wurde von den Gegnern am häufigsten die Angst vor einer Auflösung der schweizerischen Staatsbürgerschaft und am zweithäufigsten die Angst vor dem Verlust der Unabhängigkeit der Schweiz angegeben
[22].
Im August legte der Bundesrat dem Parlament eine Botschaft mit einer Serie
von technischen und redaktionellen Änderungen von Gesetzen und eingereichten Volksinitiativen vor, um diese formal an die neue Bundesverfassung anzupassen. Da es sich dabei nicht um materielle Neuerungen handelt, werden sie hier nicht einzeln aufgeführt. Das Parlament verabschiedete sie diskussionslos bei bloss einigen Gegenstimmen resp. Enthaltungen im Nationalrat, vor allem aus den Reihen der Freiheits-Partei. Der Bundesrat setzte die
neue Bundesverfassung auf den 1. Januar 2000 in Kraft
[23].
Von den beiden im ursprünglichen Totalrevisionsvorhaben enthaltenen Reformpaketen Justizreform und Volksrechte konnte beim ersten die parlamentarische Behandlung abgeschlossen werden, während das zweite aufgegeben wurde (siehe dazu unten, Teil I, 1c, Gerichte resp. Volksrechte).
[19]
TA, 22.2. (DV-SVP) und 17.4.99;
NZZ, 22.2.99 (SP).19
[20]
NZZ und
TA, 26.3.99;
TA, 6.4. und 4.10.99 sowie
BaZ, 13.4.99 (VPM etc.);
SZ, 13.4.99 und
AZ, 17.4. 99 (Inserate). Dieses über das übliche Mass von Abstimmungspropaganda hinausgehende Verdrehen von Tatsachen durch die Gegner rief in der letzten Woche vor der Abstimmung den Bundesrat mit einer Gegendarstellung auf den Plan (
Blick und
NZZ, 15.4.99).20
[21]
BBl, 1999, S. 5986 f.; Presse vom 19.4.99;
NZZ, 15.5.99.21
[22] Delgrande, Marina / Linder, Wolf,
Vox. Analyse der eidgenössischen Abstimmung vom 18. April 1999, Bern 1999.22
[23]
BBl, 1999, S. 7922 ff.;
Amtl. Bull. NR, 1999, S. 1811 ff., 1958 und 2317 ff.;
Amtl. Bull. StR, 1999, S. 820 ff. und 997. Zur Inkraftsetzung siehe auch
NZZ, 31.12.99.23
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