Année politique Suisse 1999 : Sozialpolitik / Gesundheit, Sozialhilfe, Sport / Gesundheitspolitik
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Kostenentwicklung
Im Sommer stellte die SP ein neues Finanzierungsmodell für medizinische Behandlungen vor. Bei der Präsentation betonte Parteipräsidentin Koch, die SP strebe kein rein staatliches Gesundheitswesen an, sondern stehe für eine „Kombination der interessantesten Ansätze“ ein. Das neue Konzept geht allerdings über die im Krankenversicherungsgesetz (KVG) vorgesehene staatliche Planung (Möglichkeit zur Globalbudgetierung) im stationären Spital- und Pflegebereich hinaus und erfasst unter anderem Tageskliniken, Arztkonsultationen und Spitex-Leistungen. Nach dem neuen Modell würden Ärzte, Spitäler und andere Anbieter ihre Leistungen nach jenen Preisen abrechnen, welche sie mit den Krankenkassen vereinbart haben. Vom Rechnungsbetrag der KVG-pflichtigen Leistungen müsste die öffentliche Hand 22% und der Krankenversicherer 78% übernehmen, unabhängig davon, ob die Leistung ambulant, teilstationär oder stationär erbracht wird und ob der Patient sich in einem öffentlichen, einem öffentlich-subventionierten oder in einem Privatspital behandeln lässt. Gemäss SP sollte diese neue Art der Lastenverteilung mit einheitlichen Anteilen bei den Krankenkassen und der öffentlichen Hand einen Anreiz zu effektiver Kosteneinsparung bilden, da damit nicht einfach nur Aufwendungen verlagert würden [6].
Im Gegensatz zur SP, welche der Ansicht ist, die Grundversicherung sei so auszugestalten, dass niemand für seine optimale Gesundheitsversorgung zusätzliche Leistungen braucht, verlangte die FDP in einem Positionspapier, es sei in erster Linie der Grundsatz der Eigenverantwortung im Gesundheitswesen zu stärken. Der nach wie vor über Kopfprämien zu finanzierende Leistungskatalog der Grundversicherung – heute eine „Luxuslösung“, wie Nationalrätin Heberlein (ZH) meinte – habe nur das Notwendigste zu decken; alles, was zum „Wunschbedarf“ gehört (beispielsweise die Komplementärmedizin), sei zusätzlich privat zu versichern; ein gezielter Verzicht auf staatliche Eingriffe, Preiskontrollen und Tarife soll dazu beitragen, das Übermass an Leistungen (insbesondere auch im Spitex-Bereich) zu Lasten der Krankenversicherung einzudämmen. Gemäss FDP sollen die Spitalsubventionen abgeschafft und die freiwerdenden Gelder zur Prämienverbilligung oder zur direkten Beteiligung an den Behandlungskosten der Grundversicherung verwendet werden. Der Vertragszwang zwischen Versicherern und Leistungserbringern wäre aufzulösen [7].
Die Erwägung der Basler Sanitätsdirektion und der Ärzteschaft des Kantonsspitals, einem über 80jährigen Patienten ein extrem teures, aber möglicherweise lebensrettendes Medikament angesichts seines Alters allenfalls zu verweigern, sorgte für Aufruhr und entfachte vor allem in den Medien die Debatte um die Rationierung in der Medizin. Nationalrat Jost Gross (sp, TG), Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Gesundheitspolitik (SGGP), schlug die Schaffung einer nationalen Ethikkommission vor, welche das Tabu-Thema umfassend ausleuchten soll. Aber auch die Ärzteschaft verlangte eine offene Auseinandersetzung mit der brisanten Frage, da die Rationierung in vielen Fällen notgedrungenerweise bereits stattfinde (beispielsweise bei überlasteten Intensivpflegestationen). Heute müsse die Entscheidung von den Ärzten am Krankenbett in Alleinverantwortung gefällt werden, was vor allem für die Spitalärzte zu einer unerträglichen menschlichen Belastung führe. Sie forderte deshalb die Erarbeitung klarer Kriterien, wann welche Behandlung sinnvoll und finanzierbar ist; diese sollen breit diskutiert und politisch abgestützt werden [8].
Im Spätherbst flackerte die Debatte erneut auf, als der Inhalt eines Grundlagenpapiers des Uni-Spitals Zürich zur Rationierung der allgemeinen Pflegeleistungen an die Öffentlichkeit drang. Erwogen wurde darin eine „Reduktion der Zuwendung aufs Nötigste“ sowie der Einsatz von Angehörigen zur Unterstützung der Pflege. Weiter wurde eine Kategorisierung der Patienten und Patientinnen ins Auge gefasst: Weniger gut gepflegt würden demnach Alkoholiker, Drogensüchtige und chronisch Kranke. Ausgenommen von der Rationierung blieben hingegen alle Privatpatienten [9].
Der Bundesrat war bereit, eine Motion Gross (sp, TG), die ihn verpflichten wollte, die Finanzierung der stationären und der ambulanten Pflege (Pflegeheime und Spitex) grundsätzlich vollkostendeckend sicherstellen, als Postulat entgegen zu nehmen. Der Vorstoss wurde aber von Bortoluzzi (svp, ZH) bekämpft und deshalb vorderhand der Diskussion entzogen [10].
 
[6] Presse vom 24.8.99; TA, 15.9.99. Heute übernimmt der Kanton die Hälfte der Kosten einer stationären Behandlung in einem öffentlichen Spital, wogegen er an die Kosten der teilstationären und ambulanten Leistung nichts beiträgt. Das führt dazu, dass die Krankenkassen kaum Interesse an diesen kostengünstigeren Behandlungsform haben. Zu einer ersten gesamtschweizerischen Erhebung über die Spitex-Leistungen siehe CHSS, 1999, S. 149-150.6
[7] Presse vom 17.7.99; SoZ, 18.7.99; NZZ, 31.8.99. Zu den neuesten Zahlen (1997) über die Entwicklung der Gesundheitskosten in der Schweiz und den restlichen OECD-Ländern siehe LT, 8.4.99.7
[8] Presse vom 13.1.99; Bund, 14.1.99; SGT, 19.1., 1.2. , 9.2., 1.3., 15.3., 6.4. und 27.4.99; Ww, 21.1. und 4.2.99; BZ, 1.2., 26.2. und 27.3.99; WoZ, 4.2. und 25.3.99; LT, 11.2. und 29.11.99; NZZ, 6.3., 20.3. und 18.9.99; NLZ, 27.3.99; BaZ, 13.4.99; TA, 30.8.99. Später wurde bekannt, dass es sich bei dem Patienten, der schliesslich auch ohne das Medikament überlebte, um alt Bundesrat Hans Peter Tschudi gehandelt hatte (Presse vom 18.1.99).8
[9] Presse vom 17.10.99. Zur Besorgnis des Pflegepersonals über sinkende Pflegestandards siehe NZZ, 12.6.99; Presse vom 5.8.99.9
[10] Amtl. Bull. NR, 1999, S. 2670.10