Année politique Suisse 1999 : Sozialpolitik / Gesundheit, Sozialhilfe, Sport / Gesundheitspolitik
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Medizinalpersonen
Gemäss neuem KVG hätte die Gesamtrevision des Arzttarifs (GRAT), welche eine gesamtschweizerisch einheitliche Tarifstruktur (TarMed) bezweckt und die Kerntätigkeit der Ärzte (Diagnose, Therapieberatung etc.) gegenüber den technischen Leistungen aufwerten will, bereits 1998 in Kraft treten sollen. Von der neuen Berechnungsgrundlage versprechen sich alle Beteiligten eine bessere Kostentransparenz und eine vertiefte Kontrolle der ärztlichen Leistungen. Da eine kostenneutrale Reform angestrebt wurde, verliefen die Verhandlungen zwischen der Ärzteschaft, den Spitälern und den Krankenversicherern besonders zäh. Im Januar lag ein erstes Resultat vor, welches Bundespräsidentin Dreifuss unterbreitet wurde [24].
Nun regte sich aber zunehmender Widerstand in der Ärzteschaft, vor allem von seiten der invasis und operativ tätigen Spezialärzte verschiedener Fachgebiete, welche sich 1998 zu einer eigenen Vereinigung (Foederatio Medicorum Scrutantium, FMS) innerhalb der FMH zusammengeschlossen hatten. Die Delegierten der FMH stimmten der neuen Tarifstruktur zwar grundsätzlich zu, vertagten anfangs April jedoch den definitiven Entscheid. Hinter den Kulissen tobte der Kampf weiter. Schliesslich beschloss die FMH, die Spezialistenleistungen doch wieder um 20% höher zu bewerten, was ihr geharnischte Reaktionen seitens der Allgemeinpraktiker eintrug, die sogar von „Verrat“ sprachen. Eine Spaltung der FMH wurde nicht mehr ausgeschlossen [25].
Aber auch das EDI zeigte sich keineswegs erfreut über den ersten Vorschlag, vor allem nachdem der Preisüberwacher vorgerechnet hatte, dass die Lösung keinesfalls kostenneutral sei, sondern zu einem Schub bei den Arzthonoraren von mindestens 30% führen würde. Angesichts der hoffnungslos eingefrorenen Positionen – ein neues Konzept des BSV zur Kostenneutralität war von der FMH als „verkapptes Globalbudget“ in Bausch und Bogen verworfen worden – drohte Bundespräsidentin Dreifuss damit, den neuen Arzttarif allenfalls über den Kopf der Verhandlungspartner hinweg zu verordnen [26].
Im Februar legten die kantonalen Sanitätsdirektoren eine Neuregelung der Einkommen der Spezialärzte in öffentlichen und subventionierten Spitälern vor, welche bei den Betroffenen ebenfalls auf wenig Gegenliebe stiess. Demzufolge sollten die betreffenden Mediziner keine teuren Privatbehandlungen mehr durchführen, sondern neben einer Grundbesoldung nur mehr limitierte Zuschläge beziehen dürfen. Der Verein der leitenden Spitalärzte der Schweiz wehrte sich umgehend gegen den Vorschlag, der ohne ihre Mitarbeit entstanden sei [27].
Bei der Beratung der 1. Teilrevision des KVG (siehe auch unten, Teil I, 7c, Krankenversicherung) nahm der Nationalrat mit 151 zu 4 Stimmen einen Antrag Raggenbass (cvp, TG) an, der die Versicherer vom sogenannten Kontrahierungszwang befreien wollte. Heute sind die Krankenkassen verpflichtet, mit sämtlichen Leistungserbringern Verträge abzuschliessen. Mit der neuen Bestimmung könnten die Versicherer ihre Vereinbarungen an Qualitäts- und Wirtschaftlichkeitskriterien der Leistungserbringer koppeln. Dies würde beispielsweise auch erlauben, älteren Ärzten – zum Beispiel den über 70-Jährigen – das Recht auf Krankenkassengelder abzusprechen und für Jungärzte mit wenig Erfahrung einen tieferen Tarif festzulegen. Bundespräsidentin Dreifuss zeigte sich wenig erfreut über dieses Vorpreschen der grossen Kammer. Sie meinte, man müsste zuerst prüfen, wie ein solcher Kriterienkatalog aussehen könnte, bevor man ihn grundsätzlich beschliesse [28]. Dieser Meinung war auch der Ständerat, weshalb er den Vorschlag mit 17 zu 14 Stimmen ablehnte. Genau so wenig Gnade fand vor seinen Augen ein Antrag seiner vorberatenden Kommission, welche – gerade auch im Hinblick auf die mit der Annahme der bilateralen Verträge mit der EU befürchtete „Überschwemmung“ mit ausländischen Ärzten – vorgeschlagen hatte, dem Bundesrat die Kompetenz zu erteilen, die Zulassung von Ärzten zur Grundversicherung für eine befristete Zeit einem Bedürfnisnachweis zu unterstellen. Damit könnte die Praxiseröffnung sowohl durch ausländische Ärzte als auch durch einheimische Jungärzte eingedämmt werden. Diesen Vorschlag lehnte das Plenum ebenfalls mit 21 zu 14 Stimmen ab [29].
Auf Antrag der SGK des Nationalrates, welche dem Anliegen mit 15 zu 2 Stimmen deutlich zugestimmt hatte, wurde eine parlamentarische Initiative Suter (fdp, BE), welche menschenwürdige Arbeitsbedingungen für Assistenzärzte forderte, diskussionslos angenommen. Suter verlangte insbesondere, dass Assistenzärzte und -ärztinnen dem Arbeitsgesetz unterstellt werden, um so in den Genuss der gesetzlich vorgesehenen Arbeits- und Ruhezeitvorschriften zu gelangen [30]. Der im letzten Jahr voll ausgebrochene Streit zwischen der Zürcher Assistenzärztinnen und -ärzten und der kantonalen Gesundheitsdirektion fand ein Ende durch die Einführung des ersten schweizerischen Gesamtarbeitsvertrags in diesem Bereich, welcher den Jungärzten und -ärztinnen eine maximale wöchentliche Arbeitszeit von 55 Stunden zugesteht. Der Verband Schweizerischer Assistenz- und Oberärzte erachtete das Übereinkommen zwar als ersten wichtigen Schritt, wich aber nicht von seiner Forderung ab, gesamtschweizerisch ihre Arbeitszeit auf maximal 50 Stunden zu reduzieren [31].
 
[24] TA, 7.1.99; Presse vom 29.1.99.24
[25] Bund, 8.4. und 24.11.99; Presse vom 9.4. und 30.7.99; NZZ, 10.4. und 3.12.99; TA, 6.8. und 3.12.99; TG, 30.11.99.25
[26] TA, 16.4.99; Bund, 24.4. und 24.11.99; BZ, 21.7.99; SHZ, 8.9.99; NZZ, 17.12.99. Zur Kritik des Preisüberwachers siehe NZZ, 17.4.99. Bereits in der Frühjahrssession erklärte der BR in seiner Antwort auf eine als Postulat überwiesene Motion Berberat (sp, NE), falls keine Einigung unter den Tarifpartnern zustande komme, werde er allenfalls von seiner Kompetenz gemäss Art. 43 Abs. 5 KVG Gebrauch machen und selber einheitliche Tarife festlegen (Amtl. Bull. NR, 1999, S. 473). Zu Vorstössen bezüglich der Aus-, Fort- und Weiterbildung der Ärzte siehe unten, Teil I, 8a (Hochschulen). Für die Mehrwertsteuerdiskussion im Medizinalbereich vgl. oben, Teil I, 5 (Indirekte Steuern).26
[27] Presse vom 23.2.99; NZZ, 22.3.99. Zum Umstand, dass gewisse Ärzte von ihren Patienten Zusatzhonorare für Leistungen aus der Grundversicherung verlangen, siehe die Beurteilung des BR in Beantwortung einer Interpellation Hafner (sp, SH) in Amtl. Bull. NR, 1999, S. 1337 f.27
[28] Amtl. Bull. NR, 1999, S. 755 ff. Das Konkordat der Krankenkassen sprach sich ebenfalls für eine geringere Entlöhnung der frei praktizierenden Jungärzte aus (Presse vom 24.3.99).28
[29] Amtl. Bull. StR, 1999, S. 791 ff. Zur Zuwanderung von Ärzten aus dem EU-Raum, welche mit der in den bilateralen Verträgen stipulierten gegenseitigen Anerkennung der Diplome möglich wird, siehe auch eine Interpellation Eymann (lp, BS) (Amtl. Bull. NR, 1999, S. 1371) sowie die Ausführungen der Kommissionssprecher bei der Beratung des bilateralen Abkommens über den freien Personenverkehr (Amtl. Bull. StR, 1999, S. 645 f.; Amtl. Bull. NR, 1999, S. 1580 ff.). Die Zulassung von Ärzten aus dem EU-Raum wird auch zu Änderungen im Ausbildungscursus der Schweizer Mediziner führen; siehe unten, Teil I, 8a (Hochschulen).29
[30] Amtl. Bull. NR, 1999, S. 1981 ff. Siehe SPJ 1998, S. 237 f.30
[31] LT, 12.11.99; Presse vom 13.11., 24.11. und 26.11.99.31