Année politique Suisse 1999 : Sozialpolitik / Gesundheit, Sozialhilfe, Sport / Suchtmittel
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Drogen
Das Referendum der EDU gegen den im Vorjahr gefällten „Heroinbeschluss“ des Parlaments (befristeter dringlicher Bundesbeschluss zur Verabreichung von Heroin an Schwerstsüchtige bis zum Vorliegen des revidierten Betäubungsmittelgesetzes) kam mit 55 440 gültigen Unterschriften zustande  [57].
Rund einen Monat vor der Abstimmung erhielt die ärztlich überwachte Heroin-Verschreibung Sukkurs durch einen Bericht der WHO, welche international anerkannte Experten beauftragt hatte, die schweizerische Praxis kritisch zu durchleuchten und zu würdigen. Das Expertenteam zog eine durchwegs positive Bilanz der zwischen 1994 und 1996 durchgeführten Versuche. Es habe sich gezeigt, dass die Verschreibung von Heroin in einem streng kontrollierten Rahmen machbar sei und in einer für das Gemeinwesen akzeptierbaren Weise durchgeführt werden könne. Als Erfolg wurde ferner bewertet, dass sich der Gesundheitszustand und die soziale Situation der Betroffenen klar verbessert habe, und dass sowohl die Beschaffungskriminalität als auch der Konsum von illegalem Heroin deutlich zurück gegangen seien. Als Schwachstelle des schweizerischen Forschungsprojekts wurde das Fehlen einer über einen längeren Zeitrahmen erfassten Kontrollgruppe (beispielsweise von Methadon-Patienten) geortet, weshalb weitere wissenschaftliche Erhebungen notwendig seien, um ein definitives Urteil fällen zu können [58].
Die Abstimmungskampagne verlief sehr ruhig, was auch damit zu tun hatte, dass dieses Referendum im Schatten von brisanten Vorlagen stand, welche am 13. Juni ebenfalls zur Abstimmung gelangten (Mutterschaftsversicherung, Revision und dringliche Bundesbeschlüsse der Asylgesetzgebung, 1. Teil der IV-Revision mit der geplanten Abschaffung der Viertelsrente). Zudem wurde allgemein angenommen, dass angesichts der Geschlossenheit der drei grossen Bundesratsparteien CVP, FDP und SP die Argumente jener Splittergruppe, welche das Referendum lanciert hatte (EDU) und jener rechtsbürgerlicher Kreise, welche es unterstützten (SVP, LP, SD und FP) kaum Gehör finden würden. Im Verlauf der Wochen warnten Beobachter aber zunehmend davor, den Angriff der Rechtskonservativen zu unterschätzen; im Verborgenen seien hier die gleichen Kräfte am Werk, die im März gewissermassen in letzter Minute die scheinbar „sichere“ Totalrevision der Bundesverfassung fast noch zu Fall gebracht hätten [59].
Die Ergebnisse dieser Volksabstimmung lagen mit 54,4 Prozent Ja tatsächlich weit unter jenen zur Volksinitiative „Jugend ohne Drogen“, welche ein analoges Ziel verfolgt hatte und 1997 mit über 70% Nein-Stimmen an der Urne gescheitert war. Während damals aber kein einziger Kanton das restriktive Volksbegehren angenommen hatte, sprachen sich nun immerhin 10 Kantone gegen die Weiterführung der Heroinabgabe aus. Der Bundesrat erklärte dies damit, dass es hier nicht um die 4-Säulen-Politik als Ganzes gegangen sei, sondern um einen Teilaspekt – und zwar um den umstrittensten der gesamten Drogenpolitik. Die in der Drogenpolitik traditionell restriktive Westschweiz wurde ihrem Ruf gerecht: mit Ausnahme von Genf stimmte sie geschlossen gegen die Heroinabgabe. Am stärksten war der Widerstand im Wallis (64,6% Nein), dahinter folgten Neuenburg (58%) und die Waadt (57,2%). In der Deutschschweiz lagen die fünf Kantone mit Nein-Mehrheiten in der Inner- und Ostschweiz (SZ, GL, AR, AI, TG), angeführt von Appenzell Innerrhoden mit 54,5% Nein. An der Spitze der Befürworter lagen Basel-Stadt (69,2% Ja), Baselland (64,9%), Zug und Zürich (62,7 resp. 62,5%) sowie Genf (58,9%). Basel, Zürich und Genf kennen die Heroinabgabe aus eigener Erfahrung. Im Kanton Bern, wo in den Städten Bern und Thun ebenfalls Heroinprogramme laufen, lag die Zustimmung mit 53,3% unter dem Schweizer Durchschnitt. Als Erklärung für diesen Umstand wurde angeführt, dass der Kanton Bern mehrheitlich ländlich sowie eigentliches Stammland der EDU ist und in weiten Teilen in Hand der SVP liegt, die ebenfalls gegen die Heroinabgabe angetreten war; in den städtischen Gebieten war die Annahme überdurchschnittlich [60].
Dringlicher Bundesbeschluss über die ärztliche Verschreibung von Heroin
Abstimmung vom 13. Juni 1999

Beteiligung: 45,74%
Ja: 1 128 393 (54,4%)
Nein: 944 919 (45,6%)

Parolen:
Ja: CVP (*1), FDP (*3), SP (*1), Grüne, EVP, (2*), LdU, PdA; SGB, CNG, Jugendverbände, Städteverband.
Nein: SVP (3*), LPS (*1), FP, EDU.
Stimmfreigabe: SGV

* In Klammer Anzahl abweichender Kantonalsektionen
Die Vox-Analyse dieser Abstimmung bestätigte einen gewissen Antagonismus zwischen der deutschen und der welschen Schweiz in Drogenfragen (59% Befürworter in der Deutschschweiz gegen 51% in der Romandie). Die Schulbildung schien ebenfalls eine nicht unbedeutende Rolle zu spielen, indem Hochschulabsolventen mit 73% Ja-Stimmen überdeutlich zustimmten, während Personen mit reiner Volksschulausbildung zu 61% ein Nein in die Urne legten. Im Gegensatz zu den beiden Initiativen 1997 und 1998 spielten Alter und Kirchenbindung keine Rolle. Abstimmungsentscheidend war einmal mehr die politische Positionierung: die Anhänger und Anhängerinnen der Linken (SP und Grüne) nahmen die Vorlage fast einstimmig an, während sich die Sympathisanten und Sympathisantinnen der SVP nur zu 30% dafür aussprachen [61].
Das Bundesgerichtes befasste sich in zwei Leitentscheiden mit der Modedroge Ecstasy. Gleich wie 1991 bei Cannabis entschied es, für die Bestrafung des Handels mit Ecstasy könne keine mengenmässige Definition vorgenommen werden. Ecstasy sei zwar ”keinesfalls eine harmlose Substanz”, doch sei es nicht geeignet, die körperliche oder seelische Gesundheit vieler Menschen in eine naheliegende und ernsthafte Gefahr zu bringen. Das Gefahrenpotential von Ecstasy liege unter jenem der ”harten” Drogen wie Heroin und Kokain, allerdings aber auch über jenem von Cannabis. Der banden- oder gewerbsmässige Handel mit Ecstasy könne allerdings durchaus als schweres Vergehen betrachtet werden [62].
 
[57] BBl, 1999, S. 1930 f. Siehe SPJ 1997, S. 253 ff. und 1998, S. 246 ff. Während noch vor wenigen Jahren das Schweizer Heroin-Modell im internationalen Umfeld im Abseits stand, zeigte sich an einem im März in Bern durchgeführten internationalen Symposium, dass immer mehr Länder mit Interesse die hiesige Entwicklung verfolgen. Holland unternahm bereits 1998 erste Versuche mit der kontrollierten Heroinabgabe; in Deutschland, Spanien, Dänemark, Australien, Kanada und Frankreich steht sie zur Diskussion (Presse vom 11.3.99; NZZ, 18.3.99). Komplimente erhielt die Schweiz auch vom Direktor des UNO-Programms zur Bekämpfung von Aids (TG, 22.3.99).57
[58] Presse vom 17.4.99. Die Verfechter des Referendums behaupteten wiederholt, die WHO habe zu ihrem Bericht noch einen Kommentar abgegeben, der wesentlich kritischer sei als die Expertise selber; das kolportierte Papier war jedoch weder datiert noch signiert, und die WHO dementierte stets die Existenz einer derartigen Stellungnahme (NZZ, 23.4.99; LT, 27.5.99).58
[59] Presse vom 17.4.-11.6.99.59
[60] BBl, 1999, S. 7293 ff.60
[61] Kriesi, Hanspeter u.a., Analyse der eidgenössischen Abstimmung vom 13. Juni 1999, Vox Nr. 68, Genf 1999. Vgl. SPJ 1997, S. 255 und 1998, S. 248.61
[62] Presse vom 16.6.99. Siehe SPJ 1991, S. 219.62