Année politique Suisse 1999 : Sozialpolitik / Gesundheit, Sozialhilfe, Sport / Suchtmittel
Eine der zentralen Fragen der anstehenden Gesetzesrevision, nämlich der
Umgang mit Cannabis (Konsum und Produktion) wurde in der Frühjahrssession des Nationalrates von ganz unterschiedlicher Warte aus in die Diskussion gebracht. Mit einer Motion wollte die grüne Fraktion erreichen, dass die gesetzlichen Grundlagen geschaffen bzw. geändert werden, damit Cannabisprodukte
aus der Liste der verbotenen Betäubungsmittel gestrichen werden können. Sie verwies dabei auf verschiedene Standesinitiativen, welche dieses Ansinnen ebenfalls gestellt hatten, angefangen bei jener des Kantons Bern (1988). Fraktionssprecher Baumann (BE) bezeichnete das Konsumverbot als „unbeschreibliche Heuchelei“, da volksgesundheitlich bedeutend schädlichere Genuss- resp. Suchtmittel wie Tabak und Alkohol frei zugänglich seien und zudem ein nicht unbeträchtlicher Teil der Bevölkerung (rund 500 000 Personen) zugegebenermassen Haschisch konsumiere, wenn meistens auch nur gelegentlich. Unter Hinweis auf internationale UNO-Übereinkommen und die anstehende Revision des Betäubungsmittelgesetzes erklärte Bundespräsidentin Dreifuss, eine umgehende Legalisierung des Cannabis-Konsums scheine der Landesregierung nicht angezeigt, weshalb sie Ablehnung der Motion beantragte. Sie verhehlte aber auch nicht, dass die Diskussion in diesem Bereich weiter gehen werde und allenfalls später zu einem anderen Ergebnis führen könne. Der Vorstoss wurde mit 65 zu 50 Stimmen abgewiesen
[63].
Ebenfalls mit einer Motion verlangte Nationalrat Bortoluzzi (svp, ZH), der Bundesrat solle den
Hanfanbau in der Schweiz einer generellen
Bewilligungspflicht unterstellen und nur jene Sorten zuzulassen, deren THC-Gehalt unter 0,3% liegt. Der Bundesrat war bereit, den Vorstoss als Postulat anzunehmen, doch wurde er von Ratsmitgliedern aus dem links-grünen Lager bekämpft und vorderhand der Diskussion entzogen
[64].
Rückendeckung erhielt die Position der Grünen vom Bericht der eidgenössischen Kommission für Drogenfragen (EKDF) über die Legalisierung von Cannabisprodukten – jedenfalls in dessen Grundaussage, wonach im revidierten Gesetz zwischen „weichen“ und „harten“ Drogen unterschieden werden sollte. Ohne die Gefährlichkeit von Haschisch und Marihuana bagatellisieren zu wollen, kam die Kommission zum Schluss, dass Cannabisprodukte seit einigen Jahren im Gegensatz zu anderen Drogen gesellschaftlich breit akzeptiert sind. Die Verbotspolitik habe dies nicht verhindern können. Mit der Diskrepanz zwischen Gesetz und Wirklichkeit verliere die staatliche Drogenpolitik aber zunehmend ihre Glaubwürdigkeit. Die EKDF möchte deshalb den Konsum von Cannabis und die Vorbereitungshandlungen zum Konsum, etwa den Besitz oder den Anbau der Droge, für Erwachsene freigeben.
Beim Handel schlug die Kommission zwei Modelle vor. Im ersten – dem sie einstimmig den Vorzug gab – sollte der Handel zwar legal, aber nicht völlig unkontrolliert sein. Sie empfahl, den Handel an eine Lizenz zu knüpfen. Mit einer Reihe von Regulierungen könnten sodann Konsumenten- und Jugendschutz verwirklicht werden. Diese Variante wäre allerdings mit dem – von der Schweiz noch nicht ratifizierten – Drogenabkommen der UNO von 1988 nicht vereinbar. Als „zweitbeste Lösung“ stellte die EKDF ein Modell vor, das den Rahmen der zurzeit bestehenden internationalen Abkommen voll ausschöpft, um einer Freigabe möglichst nahe zu kommen. Der Handel bliebe zwar weiterhin strafbar, durch eine Einführung des Opportunitätsprinzips könnten Polizei und Gerichte aber fallweise von Verfolgung und Bestrafung absehen. Da die Schweiz aber keine einheitlichen Grundsätze der Strafverfolgung kennt, müsste der Bund diese Praxis auf dem Verordnungsweg präzisieren, um eine rechtsungleiche Situation in den Kantonen zu verhindern.
Gleichzeitig mit dem Auftrag an die EKDF hatte das BAG von vier
Experten Studien zur möglichen Straffreiheit des
Konsums auch
von
harten Drogen bestellt. Hier fielen die Meinungen und Empfehlungen
nicht einheitlich aus. Generell wurde jedoch festgehalten, dass der Konsum aller heute verbotenen Drogen von Strafe befreit werden könnte, ohne dass die Schweiz eines der bisher ratifizierten internationalen Abkommen aufkünden müsste, da diese in erster Linie den Handel betreffen. Unbestritten war auch die Aussage, dass diese Liberalisierung Kosteneinsparungen in Höhe von mindestens 40 Mio Fr. jährlich brächten, da die Konsumenten nicht mehr verfolgt werden müssten. Uneins waren sich die Fachleute bei den Auswirkungen auf den Drogenhandel: Während ein Experte befürchtete, eine Liberalisierung des Konsums würde die Bildung offener Drogenszenen begünstigen und das Vorgehen gegen die Dealer erschweren, wies eine Expertin darauf hin, dass in Ländern mit straflosem Drogenkonsum (Deutschland und Italien) dieser nicht höher ist als in der Schweiz und eher mehr Händler verhaftet werden als in Staaten mit Konsumverbot
[65].
Da sich die Stellungnahme des Bundesrates zur Revision der Betäubungsmittelgesetzgebung gegenüber früher gemachten Zusagen verzögerte, beschloss die
Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrates (SGK) im Frühjahr mit grosser Mehrheit, das Heft selber in die Hand zu nehmen. Zur Revision des BetmG schlug sie
drei
ausformulierte
Varianten vor, wobei sie einer völligen Entkriminalisierung von Besitz und Konsum aller Drogen sowie einer Freigabe der Herstellung von Cannabis den Vorzug gab. Ein zweites Modell sieht vor, die Straffreiheit auf den Konsum von Cannabis zu beschränken, ein drittes begnügt sich mit dem Opportunitätsprinzip, bei dem die Behörden in Bagatellfällen oder zur Unterstützung einer Therapie auf Strafverfolgung verzichten können. Nach dem Wunsch der Kommission sollten diese Vorschläge zusammen mit jenen des Bundesrates in die Vernehmlassung gegeben werden; würde der Bundesrat mit seiner Vorlage jedoch scheitern oder die Revision weiter aufgeschoben, so nahm sich die Kommission vor, über eine parlamentarische Initiative selber gesetzgeberisch tätig zu werden
[66].
Diese Willensbezeugung wichtiger Parlamentarier, die vorliegenden Expertenberichte und die Ergebnisse der Volksabstimmung vom 13. Juni führten – gemeinsam mit Vorarbeiten der Verwaltung – dazu, dass der
Bundesrat Ende August
fünf Varianten zur Entkriminalisierung des Drogenkonsums in die Vernehmlassung gab, wobei die Modelle 3-5 die Vorstellungen der SGK des Nationalrates übernahmen. Als Variante 1 schlug der Bundesrat vor, den Konsum, Erwerb und Besitz aller heute illegalen Drogen ab 18 Jahren zuzulassen; für Anbau, Fabrikation und Handel mit Cannabis sollte das Opportunitätsprinzip gelten. Variante 2 des Bundesrates sieht vor, zwischen weichen und harten Drogen zu unterscheiden; der Konsum von Cannabis würde straffrei, für alle anderen Drogen sollte das Opportunitätsprinzip gelten. Fabrikation und Handel mit Cannabis würden nach wie vor verboten, doch sollte bei geringfügigen Mengen Straffreiheit gelten. Nach diesem Modell würde es für den Hanfanbau zum Drogenkonsum einer allgemeinen Bewilligung bedürfen, während jener für den Industriegebrauch der Meldepflicht unterstellt würde
[67].
Die Entschiedenheit des Nationalrates, bei der Entkriminalisierung des Betäubungsmittelkonsums vorwärts zu machen, schlug sich auch in der Behandlung von
drei Standesinitiativen nieder. Eine Initiative des Kantons
Solothurn, welche eine völlige Strafbefreiung des Konsums illegaler Drogen verlangt, war 1996 vom Ständerat abgelehnt worden, da auf anstehende Lösungsvorschläge des Bundesrates hingewiesen werden konnte. Da diese auf sich warten liessen und die Initiative der privilegierten Stossrichtung der nationalrätlichen SGK entspricht (siehe oben), beantragte diese dem Plenum Annahme des Vorstosses. Zwei vom Ständerat noch nicht behandelte Standesinitiativen der Kantone
Basel-Land und
Zürich möchten die ersatzlose Streichung der Cannabisprodukte aus dem Betäubungsmittelgesetz erreichen; diese Vorschläge nehmen das „mittlere“ Modell der SGK des Nationalrates auf, weshalb diese auch hier sinngemäss Zustimmung beantragte. In einer gemeinsamen Abstimmung wurden die drei Standesinitiativen mit dem sehr knappen Mehr von 67 zu 66 Stimmen gutgeheissen
[68].
[63]
Amtl. Bull. NR, 1999, S. 151 ff.63
[64]
Amtl. Bull. NR, 1999, S. 477. Das BA für Polizei schätzte, dass der Hanfanbau 1999 rund 200 Tonnen betragen dürfte; zwei Drittel des Umsatzes von 600 Mio Fr. gehen dabei auf das Konto von genussfähigem Hanf (
24h, 13.10.99).64
[65] Presse vom 24.4.99;
LT, 23.6.99. Die Straffreiheit in Deutschland muss allerdings dadurch relativiert werden, dass der Besitz von Drogen nach wie vor strafbar ist. Zu früheren Berichten der EKDF, die bereits ähnliche Massnahmen vorgeschlagen hatte, siehe
SPJ 1989, S. 197 f. und
1996, S. 245 f.65
[66]
BZ, 1.2.99; Presse vom 3.5.99.66
[67]
BBl, 1999, S. 7306 ff.; Presse vom 26.8.99. Nach den Worten des BR verfolgt die Revision das Ziel, die Gesetzgebung an die Realität im Drogenbereich anzupassen, sowie Lückenhaftigkeit, Inkohärenzen und Widersprüchlichkeiten des bestehenden Gesetzes zu verbessern. Für den Anbau und den Vertrieb von Hanfprodukten sind Verordnungsänderungen vorgesehen.67
[68]
Amtl. Bull. NR, 1999, S. 2010 ff. Siehe
SPJ 1996, S. 245. Dafür stimmte das geschlossene links-grüne Lager, sowie einzelne bürgerliche Abgeordnete aus der CVP, FDP und SVP.68
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