Année politique Suisse 1999 : Sozialpolitik / Gesundheit, Sozialhilfe, Sport
 
Sport
Nachdem Sion (VS) von der Evaluationskommission des Internationalen Olympischen Komitees (IOK) für seine Kandidatur für die Olympischen Winterspiele 2006 nur die allerbesten Noten erhalten hatte, durfte sich die Schweiz reelle Chancen für die Durchführung dieses sportlichen Grossanlasses ausrechnen, um so mehr als das IOK die Korruptionsvorwürfe seines Schweizer Mitglieds Hodler ernst zu nehmen schien und für die weitere Vergabe von Austragungsorten „saubere“ Verhältnisse in Aussicht stellte [75].
Um so grösser war die Enttäuschung, als das IOK mit 53 zu 36 Stimmen den Zuschlag für die Olympischen Winterspiele 2006 der norditalienischen Stadt Turin erteilte, obgleich die Evaluationskommision diese Kandidatur wegen der langen Transportwege eher negativ beurteilt hatte. Als Hauptgrund für die Vergabe an Italien wurde in den Schweizer Medien die Finanzkraft des Turiner Fiat-Moguls Agnelli sowie dessen persönliche enge Beziehungen zu IOC-Präsident Samaranch genannt, aber auch der Umstand, dass die Bewerbung Roms für den Olympischen Sommerspielen 2004 trotz eines exzellenten Dossiers das Nachsehen gegenüber Athen hatte. Hinter vorgehaltener Hand wurden aber auch Schweizer Sündenböcke ausgemacht: Marc Hodler, der den IOC-Skandal aufgedeckt hatte, die Debatte über die von Ogi stark favorisierten Mehrwertsteuergeschenke an das IOC sowie die internationale Isolation der Schweiz [76].
Im Berichtsjahr setzte Bundesrat Ogi mehrere Akzente zur Zukunft der schweizerischen Sportpolitik. An der ersten „Landsgemeinde des Sports“, die anfangs Mai im Magglingen stattfand und an der über 400 Persönlichkeiten aus Sport, Politik, Armee, Wirtschaft, Kultur und Wissenschaft teilnahmen, kündigte er an, noch vor Ende Jahr dem Bundesrat ein generelles sportpolitisches Konzept vorlegen zu wollen. Er sprach sich dafür aus, Spitzensport als eigentlichen Beruf zu anerkennen und meldete seinen Widerstand gegen die im Rahmen des neuen Finanzausgleichs geplante Kantonalisierung von „Jugend und Sport“ an [77].
Ebenfalls in Magglingen gab Ogi im November vor rund hundert Spitzensporttrainerinnen und -trainern seinem Unmut über die Stellung der Schweiz im internationalen Hochleistungssport Ausdruck. Verglichen mit anderen europäischen Ländern mit ähnlicher Grösse und Bevölkerungszahl und vergleichbaren ökonomischen Möglichkeiten sei die Schweiz fast schon sportpolitisches Entwicklungsland. Ogi ortete fünf Felder, in denen Verbesserungen möglich sein müssten: Schliessen der Lücken in der Förderungskette (von Klub bis Verband) junger Spitzensportler, Durchlässigkeit zwischen Schule und Intensivtraining, Anerkennung des Spitzensports als Berufslehre, Förderung von Nachwuchsprojekten und Schaffung eines lokalen Sportnetzes [78].
Kurz vor Weihnachten lagen dann erste Eckpfeiler des künftigen sportpolitischen Gesamtkonzepts vor. Unter dem Motto „miteinander anstatt gegeneinander“ sollen partnerschaftliche Lösungen zwischen Staat und Privaten ausgearbeitet werden, wobei der Bundesrat die politischen Schwerpunkte zu setzen beabsichtigt. Zwei Ziele stehen dabei im Zentrum der Diskussionen, nämlich „Gesundheit durch Sport“ und „Bildung durch Sport“, d.h. auf der einen Seite die Förderung von Gesundheit, Lebensqualität und Leistungsbereitschaft und auf der anderen Seite die Erziehung zu Fairness und sozialer Integration. Dies soll der Schweiz – gemäss Bundesrat Ogi eine sportliche Nation aber keine „Sportnation“ – verhelfen, künftig einen „Spirit of sport“ zu atmen. Auch in diesem Rahmen wurde der Nachwuchsförderung besondere Bedeutung zugemessen, ebenso der Dopingbekämpfung und der engeren Vernetzung zwischen Bund, Kantonen und Gemeinden einerseits und den privaten Sportverbänden andererseits [79].
Gegen den Willen des Bundesrates, der Umwandlung in ein Postulat beantragte, hiess der Ständerat ganz knapp eine Motion des Obwaldners Hess (fdp) zur Unterstützung von Sportmittelschulen durch den Bund gut. Die Landesregierung begründete ihre Zurückhaltung mit dem Umstand, dass in der Motion primär der Skirennsport angesprochen sei, erklärte sich aber bereit, ein Gesamtkonzept der Spitzensportförderung ausarbeiten zu lassen und dazu den Dialog mit interessierten Institutionen und Organisationen aufzunehmen [80].
Einen kleinen Sturm im Wasserglas entfachte der Vorentwurf zu einer Teilrevision der Verordnung über die Förderung von Turnen und Sport, mit welcher der Bund eine Flexibilisierung (nach unten) der drei obligatorischen Turnstunden in den Volks- und Mittelschulen ermöglichen will. Insbesondere im Nationalrat kam es dazu zu mehreren Interventionen, bei deren Beantwortung der Bundesrat betonte, dass er grundsätzlich an drei Stunden pro Woche festhalten möchte, dass er aber nicht umhin könne, den kantonalen Erziehungsdirektoren einen gewissen Handlungsspielraum zuzugestehen [81].
Der Bundesrat entschied sich, dem Parlament nicht ein eigenständiges Doping-Gesetz vorzulegen, wie das im Anschluss an mehrere Doping-Skandale, in die auch Schweizer Athleten involviert waren, gefordert worden war, da die Ausarbeitung einer derartigen Vorlage zu zeitintensiv wäre. Das Dopingproblem soll einerseits im neuen Heilmittelgesetz (siehe oben) angegangen werden, welches die missbräuchliche Verschreibung und Abgabe von Arzneimitteln generell verhindern will. Andererseits soll im bereits bestehenden Bundesgesetz über die Förderung von Turnen und Sport ein Doping-Verbot verankert werden. Im wesentlichen sollen dort folgende Sachverhalte einfliessen: Die Doping-Prävention wird durch den Bund festgelegt; die Herstellung, Einfuhr, Vermittlung, Verschreibung und Abgabe von Mitteln zu Dopingzwecken wird verboten; auch nichtmedikamentöse Dopingmethoden werden untersagt; die Unterstützungsleistungen an den Schweizerischen Olympischen Verband bezüglich Dopingkontrollen werden definiert, ebenso die Mindestanforderungen an diese Kontrollen. Sowohl im neuen Heilmittelgesetz wie im Sportförderungsgesetz sollen Strafbestimmungen gegen den Dopingmissbrauch verankert werden [82]. Angesichts dieser Aktivitäten des Bundesrates lehnten beide Kammern je eine parlamentarische Initiative – Bütiker (fdp, SO) im Ständerat und Günter (sp, BE) im Nationalrat – ab, welche die Ausarbeitung einer Strafnorm für Dopingvergehen durch das Parlament verlangten. Keine Folge wurde auch einer weiteren parlamentarischen Initiative Grobet (sp, GE) für ein eigenständiges Dopinggesetz gegeben [83].
 
[75] Presse vom 25.1. und 18.3.99. Siehe SPJ 1998, S. 252.75
[76] Presse vom 25.5. bis 22.6.99. Zu einem Bericht, welcher die Gründe für das Scheitern der Walliser Kandidatur auflistete, siehe LT, 19.8.99. Tourismusvertreter aus Graubünden begannen, eine neue Olympiakandidatur der Schweiz zu erwägen (Presse vom 12.8.99; BüZ, 21.8.99). Bis Ende Jahr gesellten sich das Berner Oberland sowie die Region Montreux (VD) zu ihnen (LT, 30.12.99). Für allfällige MWSt-Geschenke ans IOC und die nationalen Sportverbände siehe oben, Teil I, 5 (Indirekte Steuern).76
[77] Presse vom 5.5.99. Als erster Kanton gab sich BS ein Sportkonzept, das auch den Spitzensport einschliesst (BaZ, 21.5.99). Zum neuen Finanzausgleich siehe oben, Teil I, 5 (Bundesfinanzordnung).77
[78] Presse vom 12.11.99. Zur Berufslehre als Spitzensportler siehe auch Bund, 25.10.99. Der Schweizerische Olympische Verband distanzierte sich von Ogis Rundumschlag: der BR habe offenbar übersehen, dass die Schweiz seit Jahren in gewissen Sportarten zur Elite gehöre (Rudern, Radfahren, Bob, Orientierungslauf usw.) (TG, 13.11.99).78
[79] Presse vom 21.12.99.79
[80] Amtl. Bull. StR, 1999, S. 459 ff.80
[81] Amtl. Bull. NR, 1999, S. 1954, 2470 und 2564; NZZ, 6.10.99; TA, 14.10. und 16.10.99. Gegen Bundesrecht verstossen würde die Absicht des Kantons Bern, das Lehrlingsturnen abzuschaffen (BZ, 7.9.99).81
[82] TA, 3.2.99; Presse vom 5.2. (Internationale Anti-Doping-Konferenz in Lausanne) und 2.3.99. Auch der Schweizerische Olympische Verband bezeugte seinen Willen, energischer gegen Doping vorzugehen (Presse vom 24.3.99). Die neu geschaffene internationale Agentur gegen Doping eröffnete für zwei Jahre einen provisorischen Sitz in Lausanne; für den definitiven Standort steht Lausanne in Konkurrenz mit verschiedenen anderen europäischen Städten (LT, 10.11.99).82
[83] Amtl. Bull. StR, 1999, S. 1054 ff.; Amtl. Bull. NR, 1999, S. 2586 ff.83